I. Problem bei Klagerücknahme
Der BGH hatte sich mit der Frage zu befassen, ob die durch die Beauftragung eines Anwalts bzw. einer Anwältin entstehenden Kosten auch dann zu erstatten sind, wenn zum Zeitpunkt der Beauftragung die Klage bereits zurückgenommen worden war, der Beklagte dies aber nicht wusste.
Die entscheidende Frage war, ob hier auf die objektive Lage abzustellen ist oder auf die subjektive Lage. Objektiv ist es sicherlich nicht notwendig, noch eine Anwältin bzw. einen Anwalt zu beauftragen, wenn die Klage bereits zurückgenommen worden ist. Aus der subjektiven Sicht des Beklagten, der keine Kenntnis von der Klagerücknahme hat, erscheint es dagegen erforderlich, einen Anwalt zu beauftragen.
Die zugrunde liegende Rechtsfrage war dem BGH bereits 2018 vorgelegt worden. Die dortige Rechtsbeschwerde war allerdings unzulässig, so dass der BGH in der Sache nicht entscheiden musste. Er hat jedoch schon damals darauf hingewiesen, dass er die Rechtslage ähnlich beurteile wie bei einer Rechtsmittelrücknahme und er folglich beabsichtige, auch hier auf die subjektive Sicht abzustellen (AGS 2019, 198 = NJW-RR 2019, 381).
II. Die Rechtsprechung des BGH zur Rechtsmittelrücknahme
Zur Frage, ob die Beauftragung eines Anwalts in Unkenntnis der Rücknahme eines Rechtsmittels notwendig ist, hatte der BGH allerdings zunächst die Auffassung vertreten, abzustellen sei auf die objektive Lage (AGS 2016, 252 = NJW 2016, 2751). Werde ein Rechtsmittel zurückgenommen, dann sei eine hiernach erfolgte Bestellung des Anwalts objektiv nicht mehr notwendig. Die dadurch ausgelösten Kosten seien folglich auch nicht erstattungsfähig. Auf die (verschuldete oder unverschuldete) Unkenntnis des Rechtsmittelbeklagten von der Rechtsmittelrücknahme komme es nicht an, denn die subjektive Unkenntnis des Rechtsmittelgegners sei nicht geeignet, die Erstattungsfähigkeit der Kosten für eine objektiv nicht erforderliche Handlung zu begründen.
Nachdem diese Entscheidung in der obergerichtlichen Rechtsprechung erhebliche Kritik erfahren hat (OLG München AnwBl 2016, 854 = AGS 2016, 547 = NJW-Spezial 2016, 733; OLG Celle AGS 2017, 99 = NJW-Spezial 2017, 123), ist der BGH (AnwBl 2017, 447 = AGS 2017, 248 = RVGreport 2017, 143 = NJW-Spezial 2017, 443) zunächst in einer Familiensache von seiner Auffassung abgerückt und hat hier wegen der Besonderheit in Familiensachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf die subjektive Lage abgestellt. Wenig später hat der BGH (NJW 2018, 1403 = AnwBl 2018, 300 = AGS 2018, 251 = RVGreport 2018, 179) dann auch für Zivilsachen die Kehrtwendung vollzogen und „in Abgrenzung“ zu seiner vorangegangenen Entscheidung klargestellt, dass auch hier auf die subjektive Sicht abzustellen sei.
III. Die Entscheidung des BGH
Diese Rechtsprechung wendet der BGH jetzt auf die Klagerücknahme an und stellt auch hier auf die subjektive Sicht ab, also darauf, ob es aus Sicht des Beklagten notwendig war, einen Anwalt zu beauftragen (Beschl. v. 23.5.2019 – V ZB 196/17, AGS 2019, 433 = NJW-Spezial 2019, 571 = RVGreport 2019, 344). Daher kann ein Beklagter grundsätzlich die Erstattung der Kosten seines Anwalts verlangen, wenn er diesen zwar erst nach Rücknahme der Klage beauftragt hat, der Beklagte aber von der Rücknahme weder Kenntnis hatte noch hätte Kenntnis haben müssen.
Beispiel:
Der Kläger reicht am 1.10.2019 Klage ein. Die Klage wird dem Beklagten am 15.10.2019 zugestellt. Daraufhin beauftragt der Beklagte noch am selben Tag einen Anwalt, der
- a) die Verteidigungsbereitschaft anzeigt,
- b) die Verteidigungsbereitschaft anzeigt und gleichzeitig die Abweisung der Klage beantragt.
Die Klage war allerdings bereits mit einem am 11.10.2019 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz zurückgenommen worden, was dem Beklagten und seinem Anwalt nicht bekannt war.
Würde man hier auf die objektive Lage abstellen, wären die Anwaltskosten in beiden Fällen nicht erstattungsfähig. Zutreffend ist es jedoch, auch hier auf die subjektive Lage abzustellen.
Im Fall a) ist eine 0,8-Verfahrensgebühr erstattungsfähig. Die bloße Anzeige der Verteidigungsbereitschaft führt noch nicht zum Entstehen der vollen Verfahrensgebühr, sondern lässt nur die ermäßigte 0,8-Verfahrensgebühr nach Nr. 3101 VV entstehen (OLG Stuttgart AGS 2019, 501).
Im Fall b) ist bereits die volle 1,3-Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV) angefallen und auch erstattungsfähig, die hier auch notwendig war, da im Gegensatz zu einem Rechtsmittel im Falle der Klage sofort ein Zurückweisungsantrag gestellt werden darf.
IV. Fazit
Werden Anwaltskosten in Unkenntnis einer Klagerücknahme aufgewandt, sind diese Kosten erstattungsfähig, wenn der Rechtsmittelgegner bzw. der Beklagte von der Rücknahme keine Kenntnis hatte und davon auch keine Kenntnis haben musste. Das gleiche gilt bei Rücknahme anderer Anträge (z. B. Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids) oder auch bei der Rücknahme von Rechtsmitteln.
Praxishinweis für den Klägeranwalt:
Für den Anwalt des Klägers, der die Klage wieder zurücknehmen soll, bedeutet dies, dass er den Beklagten möglichst unverzüglich über eine Rücknahme unterrichten sollte. In diesem Moment erhält der Gegner Kenntnis von der Rücknahme. Dann ist es nämlich grundsätzlich nicht mehr notwendig, noch einen Anwalt mit der Vertretung oder weiteren Maßnahmen zu beauftragen. Geschieht dies dennoch, sind die dann entstandenen Anwaltskosten jedenfalls nicht erstattungsfähig.
Kündigt der Kläger gegenüber dem Beklagten bereits vor Zustellung der Klage an, dass die Klage zurückgenommen wird und beauftragt der Beklagte dennoch nach Klagezustellung einen anwaltlichen Prozessvertreter, so sind die entstandenen Anwaltskosten nicht erstattungsfähig, wenn die Klage der Ankündigung entsprechend umgehend zurückgenommen wird.
AG Dortmund, Beschl. v. 12.9.2014 – 426 C 1293/14, AGS 2014, 492 = NJW-Spezial 2014, 635
Versäumt der Anwalt die Unterrichtung, macht er sich gegebenenfalls schadensersatzpflichtig.
Praxishinweis für den Beklagtenanwalt:
Zwar muss grundsätzlich der Kläger im Kostenfestsetzungsverfahren darlegen und glaubhaft machen, dass der Beklagte bei Beauftragung des Anwalts von der Rücknahme der Klage bereits Kenntnis hatte, bzw. hätte Kenntnis haben müssen; ungeachtet dessen bietet es sich an, dass sich der Anwalt auf Klägerseite im Fall des Auftrags zur Verteidigung gegen eine Klage unverzüglich zur Akte bestellt, damit die Beauftragung durch den Beklagten aktenkundig wird und im Falle einer Klagerücknahme sich bereits aus den Akten ergibt, dass der Anwalt schon vor Rücknahme beauftragt worden war.