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Von Prof. Dr. Henning Müller

Seit dem 1. Januar 2022 besteht die aktive Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs insbesondere für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Während der elektronische Rechtsverkehr mit der Justiz im Alltag immer mehr zur Routine wird, führen die mittlerweile unübersichtliche Rechtsprechung und die manchmal hakende Technik zu Unsicherheiten. Dieser Beitrag zeigt anhand aktueller Entwicklungen und Rechtsprechung denkbare Haftungsfallen auf und bietet Hinweise, wie die Fallstricke vermieden werden können. Schwerpunkt der Betrachtung sind aktuelle Entscheidungen zu Form- und Fristfragen, ferner die Möglichkeiten der Ersatzeinreichung bei technischen Problemen.

I. Das Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz

Mit Wirkung zum 16. Juli 2024 wurde § 130a ZPO – weitgehend gemeinsam mit den Parallelnormen in den Fachgerichtsordnungen – durch das „Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz“ (BGBl. 2024 I Nr. 234) geändert. Durch die darin enthaltenen Rechtsanpassungen im Bereich des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Aktenführung beabsichtigt der Gesetzgeber, bei der Pilotierung elektronischer Gerichtsakten festgestellte Probleme zu beheben und die bereits fortgeschrittene Digitalisierung in der Justiz in allen Verfahrensordnungen weiter zu fördern. Insbesondere erweitert der Gesetzgeber die Möglichkeit der elektronischen Kommunikation auch in bisher nicht normierten Grenzbereichen (bspw. bei der Einreichung von Erklärungen und Anträgen der Partei selbst (v. a. eidesstattliche Versicherungen, Vollmachten und PKH-Erklärungen) oder – durch eine Formfiktion – bei Willenserklärungen der Partei). Ferner baut der Gesetzgeber bestehende Formerfordernisse zugunsten der elektronischen Form weiter ab und ermöglicht teilweise die Identifikation auch über das etablierte Identifizierungsverfahren ELSTER. Den Umstieg auf eine elektronische Gerichtsaktenführung will der Gesetzgeber schließlich durch die Ermöglichung von Hybridakten weiter erleichtern und die technischen Standards der elektronischen Aktenführung in Behörden und Gerichten harmonisieren.

II. Aktuelle Rechtsprechung zur elektronischen Form

130a Abs. 3 ZPO sieht zwei Wege vor, die Authentizität des Dokuments, d. h. die Verknüpfung des Erklärungsinhalts („elektronisches Dokument“) mit der Identität des Absenders („verantwortende Person“), nachzuweisen. Hierdurch wird auf elektronischem Wege die Funktion der handschriftlichen Unterschrift ersetzt, vgl. § 130 Nr. 6 HS. 1 ZPO.

In der Variante des § 130a Abs. 3 Satz 1 1. Var. ZPO erfolgt der Identitätsnachweis dadurch, dass das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen wird. Bei Nutzung dieser Variante darf das elektronische Dokument auf allen zugelassenen elektronischen Übermittlungswegen, durch jede beliebige Person versandt werden. Insbesondere kann der Versandprozess also auch durch ein Sekretariat oder einen Vertreter erfolgen. Die Beschränkung der Versandwege auf die zugelassenen Übermittlungswege hat in dieser Variante nur Gründe aus dem Datenschutzrecht bzw. der IT-Sicherheit. Es sind jedoch nicht alle technischen Formen qualifizierter elektronischer Signaturen zugelassen. Eindeutig rechtmäßig ist die Signatur mit der sog. detached Signatur oder der Inline-Signatur. Ausgeschlossen sind dagegen die Container-Signatur (§ 4 Abs. 2 ERVV; BGH v. 15.5.2019 – XII ZB 573/18; BSG v. 9.5.2018 – B 12 KR 26/18; BSG v. 20.3.2019 – B 1 KR 7/18; BVerwG v. 7.9.2018 – 2 WDB 3/18; BAG v. 15.8.2018 – 2 AZN 269/18) und nach der bislang herrschenden Meinung gem. Nr. 4 Bekanntmachung zu § 5 der ERVV (ERVB 2018) die sog. enveloping Signatur. Der BGH (v. 15.5.2024 – VIII ZR 52/23; m. abl. Anmerkung Müller, NJW 2024, 2437) sieht dagegen nun die prozessuale Form auch bei Nutzung einer enveloping Signatur als gewahrt an, wenn das Dokument durch das empfangende Gericht tatsächlich bearbeitbar war. In diesem Fall sei der Ausschluss dieser Signaturart unverhältnismäßig, weil Sinn und Zweck der Beschränkung der Signaturarten darin bestünde, die Verarbeitbarkeit durch die gerichtlichen eAkten-Systeme sicherzustellen.

Die Authentizitätsprüfung steht in einem engen Zusammenhang mit der Abgrenzung eines übersandten rechtsverbindlichen Schriftsatzes zu einem Entwurf. In der Rechtsprechung war insofern zur papiergebundenen Kommunikation anerkannt, dass die Unterschrift einem verfassten Schriftstück außerdem die Erkennbarkeit verleiht, als für den Rechtsverkehr bestimmt zu sein, um damit das Entwurfsstadium zu verlassen (BVerwG v. 6.12.1988 – 9 C 40/87). Grundsätzlich kann dieselbe Funktion zumindest einer qualifizierten elektronischen Signatur beigemessen werden. Hinterlegt aber der Einsender eine gesonderte Markierung als Entwurf (bspw. auf jeder Seite seines Schriftsatzes großflächig diagonal im Hintergrund des Fließtextes den Begriff „ENTWURF“; vgl. BVerwG v. 21.12.2023 – 2 B 2.23), steht auch in Ansehung einer ebenfalls angebrachten qualifizierten elektronischen Signatur nicht hinreichend sicher fest, dass er dem Gericht ein prozesserhebliches Schriftstück zuleiten wollte. Insbesondere ein „Wasserzeichen“ dient regelmäßig dazu, ein Dokument als vorläufig und noch nicht für den Rechtsverkehr freigegeben zu kennzeichnen. Das LVerfG Schleswig-Holstein (v. 2.2.2024 – LVerfG 5/23) meint dagegen, der Umstand, dass ein Schriftsatz lediglich als „Entwurf“ gekennzeichnet war, führe nicht stets zur Unzulässigkeit des Antrags. Die Gesamtumstände seien zu würdigen; hierzu gehöre auch der (schlüssige) Vortrag des Einreichenden, dass es sich bei der Kennzeichnung um ein Versehen gehandelt habe, und die qualifizierte elektronische Signatur als Indiz der Verbindlichkeit (vgl. Schmid RDi 2024, 286).

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III. Aktuelle Rechtsprechung zu Fristfragen

130a Abs. 5 Satz 1 ZPO bestimmt zur Feststellung der Fristwahrung, dass das elektronische Dokument im Gericht eingegangen ist, sobald es auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist. Dieser Zeitpunkt korrespondiert mit der Definition des Zugangs von elektronischen Nachrichten im Allgemeinen: Eine Willenserklärung, die einem anderen gegenüber abzugeben ist, wird, wenn sie in dessen Abwesenheit abgegeben wird, gemäß § 130 Abs. 1 BGB in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie ihm zugeht. Der Zugang einer Willenserklärung unter Abwesenden setzt voraus, dass sie so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Der Intermediär gehört zum „Machtbereich“ des Empfängers. Mit der Kenntnisnahme kann jedenfalls zu den üblichen Geschäftszeiten gerechnet werden. Dass die Nachricht tatsächlich abgerufen und zur Kenntnis genommen wird, ist dagegen für den Zugang nicht erforderlich (BGH v. 6.10.2022 – VII ZR 895/21).

Entscheidend ist, dass der Schriftsatz gerade auf dem für dieses Gericht eingerichteten Empfänger-Intermediär eingeht (BGH v. 30.11.2022 – IV ZB 17/22; dazu auch Fritzsche, NZFam 2023, 180). Im Fall des BGH hatte ein Rechtsanwalt gegen die erstinstanzliche Entscheidung eines Landgerichts frist- und formgerecht Berufung eingelegt, die Berufungsbegründung dann aber versehentlich an das elektronische Postfach des Landgerichts übermittelt, sodass am zuständigen Oberlandesgericht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist kein Eingang zu verzeichnen war. Bei dem EGVP des Landgerichts handele es sich gerade nicht um die für den Empfang der Berufungsbegründung bestimmte Einrichtung des Berufungsgerichts nach Abs. 5 Satz 1, woran auch die Tatsache nichts ändere, dass beide elektronischen Posteingangsstellen vom gleichen technischen Dienstleister betreut werden.

Zu Unrecht meint dagegen das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht (v. 11.10.2023 – 10 A 46/22), der Eingang im EGVP-Postfach der Gerichtsverwaltung sei zu behandeln wie ein Eingang bei einem falschen Gericht. Diese Ansicht ist abzulehnen, weil auch das Gerichtsverwaltungspostfach zur „Sphäre des Gerichts“ gehört. Getrennte Sphären sind hier zudem ganz praktisch nicht zu erkennen, weil auch das für Gerichtsverfahren explizit vorgesehene Postfach letztlich von der Gerichtsverwaltung betrieben und durch die – ebenfalls der Verwaltung, nicht dem einzelnen Spruchkörper, zugeordnete – Poststelle des Gerichts bedient wird.

Beim beA kann vom Zugang ausgegangen werden, wenn die elektronische Nachricht zu den „üblichen Geschäftszeiten“ auf dem Intermediär zum Abruf bereitgehalten wird. Es kommt nicht darauf an, wann die diesbezügliche Benachrichtigungs-E-Mail bei dem Empfänger eingeht (OLG Hamm v. 22.02.2024 – 22 U 29/23).

Bleibt die automatisierte Eingangsbestätigung als zentraler Nachweis des Zugangs aus, hat der Absender alle möglichen und zumutbaren weiteren Maßnahmen zur Fristwahrung zu ergreifen. Anderenfalls ist eine eingetretene Fristversäumung nicht als unverschuldet anzusehen und Wiedereinsetzung in die Versäumung der Frist nicht zu gewähren (LG Berlin v. 28.5.2024 – 83 T 10/24 XIV L). Ein Prozessbevollmächtigter hat durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden, insbesondere, wenn im Fall der Zustellung gegen Empfangsbekenntnis der Eingang der Entscheidung in der Kanzlei und die Entgegennahme durch den Rechtsanwalt bzw. die Rechtsanwältin zeitlich auseinanderfallen können. Erfolgt die Zustellung einer fristenauslösenden gerichtlichen Entscheidung wie eines die Berufung zulassenden Beschlusses gegen Empfangsbekenntnis, darf ein Rechtsanwalt dieses erst unterzeichnen und zurückgeben, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist (BVerwG v. 4.2.2013 – 6 B 55/12 – juris Rn. 6; vgl. auch BGH v. 2.2.2010 – VI ZB 58/09 – juris Rn. 6). Dies gilt auch im Fall der Rücksendung eines elektronischen Empfangsbekenntnisses (BVerwG v. 19.9.2022 – 9 B 2/22 – juris Rn. 22; OVG Lüneburg v. 3.5.2024 – 14 LB 115/23).

Dass der Absender den Button „Senden“ betätigt und dass er ein automatisch generiertes Sendeprotokoll erhält, genügt dagegen nicht, um – der anwaltlichen Sorgfalt genügend – von einem erfolgreichen Versand auszugehen. Einzig verlässlich ist die automatisierte Empfangsbestätigung, die deshalb nach dem Sendevorgang zu kontrollieren ist (BGH v. 4.7.2023 – 5 StR 145/23).

IV. Aktuelle Rechtsprechung zu technischen Störungen

Gem. § 130d Satz 3 ZPO kann bei einer vorübergehenden technischen Unmöglichkeit der elektronischen Einreichung, ein Schriftsatz auch schriftlich oder per Telefax an das Gericht übermittelt werden. Die vorübergehende Unmöglichkeit ist bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen.

Zur Glaubhaftmachung kommen eine anwaltliche Versicherung, eine Versicherung an Eides statt (§ 294 ZPO) sowie – ergänzende – Screenshots in Betracht (Tiedemann, jurisPR-ArbR 25/2022 Anm. 6). Eine Glaubhaftmachung durch anwaltliche Versicherung verlangt, dass der Anwalt die Richtigkeit seiner Angaben unter Bezugnahme auf seine Standespflichten anwaltlich versichert (vgl. BGH v. 2.11.1988 – IVb ZR 109/87; BGH v. 18.5.2011 – IV ZB 6/10; BGH v. 22.10.2014 – XII ZB 257/14; LArbG Berlin-Brandenburg v. 02.08.2022 – 26 Ta 121/22). Die Glaubhaftmachung der technischen Störung im Rahmen der Ersatzeinreichung kann auch (muss aber nicht) durch einen Screenshot einer Website erfolgen, die Störungen protokolliert (bspw. bea.expert; BGH v. 25.01.2024 – I ZB 51/23).

Die Glaubhaftmachung ist stets erforderlich (Müller, NZA 2023, 89, 90 f. unter Hinweis auf BAG v. 25.8.2022 – 6 AZR 499/21).

Insbesondere an die Fristen zur Glaubhaftmachung legt die Rechtsprechung strenge Maßstäbe an. Mangels einzuräumender Prüfungs- und Überlegungszeit handele es sich um eine unaufschiebbare Pflicht des Einreichenden (LG Berlin v. 6.7.2023 – 67 O 36/23). Rechtzeitig ist nach Auffassung des BGH (v. 25.7.2023 – X ZR 51/23) aber jedenfalls noch die Darlegung und Glaubhaftmachung, wenn sie am gleichen Tag wie die Ersatzeinreichung bei Gericht eingeht. Die bisherige Rechtsprechung des 9. Zivilsenats (BGH v. 17.11.2022 – IX ZB 17/22) wird damit relativiert.

Weitere Beiträge

Prof. Dr. Henning Müller ist Direktor des Sozialgerichts Darmstadt, Lehrbeauftragter der Philipps-Universität Marburg und der Hochschule Ludwigshafen. Zudem ist er Mitherausgeber des „jurisPK-ERV“, des „beckOKG-SGG“ und der Zeitschrift „Recht Digital“ (RDi), sowie Herausgeber des Blogs ervjustiz.de zum elektronischen Rechtsverkehr und Autor des Fachbuchs „e-Justice-Praxishandbuch“.

Bild: Adobe Stock/©sirichai

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