Von Christian Noe
Seitdem OpenAI seinen cleveren KI-Bot ChatGPT aus dem Entwicklerhut gezaubert hat, steht die digitale Welt Kopf. Der Wirtschaftsjurist Tom Braegelmann meinte im Handelsblatt, dass ChatGPT und vergleichbare Bots den Rechtsberatungsmarkt grundlegend verändern würden. Werden sie das wirklich? Rechtsanwalt Prof. Dr. Hans-Hermann Dirksen von LIEBENSTEIN LAW hat sich auf das Recht der Digitalisierung in der Industrie 4.0 und im HealthCare-Sektor spezialisiert. Er berät Mandanten, wenn Vertragswerke im Bereich IT/IP-Law und Neue Technologien geschrieben werden müssen. Im Interview erklärt er, was auf Anwälte mit ChatGPT zukommt und wo die Grenzen von KI-Tools verlaufen.
Im März 2023 ist das verbesserte GPT-4 erschienen, die Bot-Technologie steckt außerdem in der Suchmaschine Bing. Microsoft hat sie außerdem in ihre Officesuite integriert – die Assistenzfunktionen soll helfen, per Sprachbefehl Texte, Tabellen und Präsentationen zu erstellen oder E-Mail-Korrespondenzen zusammenzufassen. Tatsache ist: Kapitalgeber investieren riesige Summen in diese Technologie, hieraus resultieren große Entwicklungssprünge in kurzen Zyklen. Die Fachwelt ist beeindruckt von dem jungen KI-Tool. Was meinen Sie dazu?
Und das zu Recht. ChatGPT kann bei der Beantwortung von einfachen und komplizierten Fragen helfen oder Texte gestalten, das ist sein Job. Also ein Large-Language-Modell: Mittels Künstlicher Intelligenz, also KI, sucht das Tool Texte heraus und stellt diese für eine Antwort sprachlich und logisch neu zusammen. Es kann schlussfolgern, welche Worte oder welche Versatzstücke aus einem Quelltext in der Antwort am sinnvollsten wären. Allerdings ist sein Wissensstand beschränkt, Antworten mit aktuellen Informationen in Echtzeit oder neue Änderungen in der Gesetzgebung kann ChatGPT nicht schnell vorhalten und anpassen.
Also technisch doch nicht so revolutionär, wie derzeit gehandelt?
Ich würde sagen: Doch schon, denn im Unterschied zu einer klassischen Suchmaschine gibt ChatGPT auf eingetippte Fragen nicht Texte aus, von denen es denkt, dass diese die Antwort liefern, um die Frage zu beantworten. Sondern es stellt anhand der ihm zur Verfügung stehenden Informationen komplette Texte neu zusammen und „lernt“ auch kontinuierlich anhand gestellter Fragen oder im Dialog mit dem Fragesteller. Bei relativ freien Texten scheint das gut zu klappen, die Grenze liegt aber in der Detailliertheit oder Aktualität.
Bedroht ChatGPT die Anwaltsbranche?
Sofern es um einfache anwaltliche Tätigkeiten geht, kann ChatGPT hier tatsächlich vieles übernehmen. Es kann wohl große Textmengen gut erfassen und Zusammenfassungen erstellen. Natürlich spart es Zeit, sich ein Urteil über 100 Seiten schnell zusammenfassen zu lassen. Das ist aber nichts ganz Neues. Vertragsjuristen und Wirtschaftskanzleien arbeiten schon lange mit Tools, um umfassende Akten- oder Datenbestände durchzuschauen oder Formulierungen, Schlagworte bzw. Wortkombinationen in Vertragswerken zu prüfen. ChatGPT kann aber auch bei der Prozessführung helfen, indem es den Status von Gerichtsverfahren verfolgt und die erforderlichen Schritte erläutert, die zur Fortsetzung eines Verfahrens erforderlich sind.
Aber?
ChatGPT hat keine Kontrollinstanz. Letztendlich ist immer der Anwalt gefragt, da er eigenverantwortlich für das juristische Ergebnis steht. Das Programm kann ihn dabei unterstützen, Schreiben und Schriftsätze anzufertigen, die er lediglich auf juristische Richtigkeit prüfen muss.
Wie können Anwälte ChatGPT sinnvoll in den Kanzleialltag integrieren?
Das Tool nimmt, wie gesagt, jede Menge Textarbeit ab. Oder hilft bei der Forschung, indem Suchanfragen durchgeführt und relevante Informationen aus verschiedenen Quellen extrahiert werden. Abgesehen von Recherchen kann ich KI als Schreibwerkzeug nutzen. Hier mag ich auch effektiv mehr Zeitgewinn haben. Oder man hat einen älteren längeren Schriftsatz oder Vertrag und will wissen, welche Rechtsprechung darin zitiert ist und ob diese oder jene EuGH-Regelung schon drinsteht. Das erspart mir zwar nie die abschließende Kontrolle, aber enorm Zeit. Vor allem kann ich ChatGPT als Inspirationsquelle nutzen.
Ein Bot soll frische Ideen im Kanzleiteam anstoßen?
Na ja, in der Kanzlei haben wir zahlreiche Musterverträge zur Vertragsgestaltung. Kürzlich war ich sehr begeistert über eine neue Ausgabe von Texten. Im Vergleich zu den älteren, klobigen Mustern, die wir davor hatten und mit denen man sich oft auch als Jurist schwergetan hat, waren die frisch und clever formuliert. Das Stichwort ist „Verständlichkeit“. Dort, wo es Sinn macht, kann mir ChatGPT Textideen, frische Formulierungen, eine elegante, verständliche nicht-juristische Ansprache liefern. Hier ist auch der kreative Ansatz in einer Anwaltskanzlei gefragt, die sich hiervon stimulieren lassen kann.
Und wie sieht es mit dem Urheberrechtsschutz aus, wenn z. B. neue KI-erstellte Muster eingesetzt werden?
Die von ChatGPT generierten Texte sind in aller Regel neu und originell. Und obwohl sie auf existierenden Texten basieren, sind sie durch die verwendeten spezifischen Algorithmen und Prozesse einzigartig. Die Texte unterscheiden sich erheblich von den ursprünglichen Texten. Deswegen können die Antworten praktisch nie auf eine bestimmte Person als Urheber zurückgeführt werden. Von einer KI erstellte Texte sind nicht nach dem UrhG schützbar. § 2 Abs. 2 UrhG spricht ausschließlich von einer persönlichen geistigen Schöpfung – insofern kann Urheber i. S. d. § 8 UrhG nur ein Mensch sein. An den Texten von ChatGPT kann daher grundsätzlich kein Urheberrecht entstehen, das an einen Nutzer lizenziert werden könnte.
Zur Erstellung der Texte greift ChatGPT allerdings auf eine Vielzahl von Quellen zu, sodass es hier in der Verantwortung von ChatGPT liegt, eventuelle Urheberrechte an diesen Texten zu beachten.
Wie kann man sich das konkret vorstellen, wenn ein juristischer Laie den Bot mit rechtlichen Fragen füttert?
Natürlich werden Internetnutzer bei ChatGPT auch rechtliche Fragen eingeben. Aber die Auskünfte erreichen schnell ihre Grenzen, denn sie können nicht die nuancierten Entscheidungen und strategischen Überlegungen eines qualifizierten Anwalts ersetzen. In vielen Fällen benötigen rechtliche Angelegenheiten menschliches Fachwissen und Urteilsvermögen, das über die Kapazitäten einer KI hinausgeht.
Ein Beispiel:
Jemand tippt bei ChatGPT ein, er sei geschlagen worden. Er fragt den Bot, was im Gesetz zu Schadenersatz steht. Dann bekommt er Informationen genannt, wie Schmerzensgeld geltend gemacht wird und was zusätzlich noch berücksichtigt werden muss usw. Aber: Jeder Fall hat schnell Besonderheiten. War Alkohol im Spiel? Fuhr jemand zu schnell, weil er eine schwangere Frau rasch ins Krankenhaus bringen wollte? Hatte ein Fahrer eine Panikattacke am Steuer, da er seine Medikamente nicht eingenommen hat? ChatGPT kann auch nicht Empathie oder menschliche Verbindungen bereitstellen, wie es Anwälte in der Regel tun. Wenn es darum geht, komplexe persönliche Probleme oder schwierige Angelegenheiten zu besprechen, vertrauen Menschen oft auf menschliche Unterstützung und den zwischenmenschlichen Faktor. Chatbots können diese Art von Support nicht anbieten.
Klingt nach den gleichen Grenzen, wie sie automatisierte Internetangebote für einfache Rechtsfragen heute schon haben?
Das stimmt. Grundsätzliche Auskünfte zu einem Rechtsproblem, also unter welchen Umständen man welche Ansprüche hat, das leisten heute ja schon teils die Algorithmen von automatisierten Rechtsdienstleistungen, die hinter Internetangeboten zu Fluggastrechten oder Bußgeldbescheiden stehen. Man durchläuft dort einen Frage-Antwort-Katalog. Das funktioniert, solange keine besonderen Einzelheiten berücksichtigt werden müssen. Aber die rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts, der aus verschiedenen Faktoren besteht, die eben als solche nicht eindeutig für die Urteilsfindung sind, das ist tatsächlich etwas, was immer nur ein menschliches Gehirn machen kann. Künstliche Intelligenzsysteme sind und werden aller Voraussicht nach nie in der Lage sein, menschliche Intuition und kreative Entscheidungsfindung zu replizieren. Da ist sich die Wissenschaft relativ einig.
Könnten Anwälte aber umgekehrt auch von der Trägheit von Rechtsuchenden und Mandanten profitieren?
Meine Euphorie für Legal Tech hat tatsächlich ein wenig gelitten, weil ich festgestellt habe, dass viele Rechtsuchende oder Mitarbeiter in Unternehmen entweder nicht die Lust oder keine Zeit haben, solche Anwendungen zu verwenden. Eigentlich paradox, denn diese sollen ja Zeit sparen. Aber ich werde beispielsweise immer wieder noch gebeten, ein Impressum zu erstellen, obwohl es da Onlineangebote gibt. Oft will man sich aber nicht durch die vielen automatisch gestellten Fragen quälen, wird während der Antworten unsicher, und will dann am Ende doch lieber alles vom Anwalt abgesichert wissen.
Microsoft sammelt die Daten, die ich bei ChatGPT eingebe. Das passt weniger gut zu europäischen und deutschen Gesetzen zum Datenschutz. Wozu raten Sie insofern?
Amerika ist immer schwierig. Viele Unternehmen oder Anwälte vereinbaren mit Anbietern Standardvertragsklauseln, wenn US-Firmen Zugriff auf Daten haben. Unternehmen entwickeln ihre Produkte ja ständig weiter. Und Anwendungen wie Amazons Alexa lernen natürlich dadurch, indem ihnen gestellte Fragen oder Befehle ausgewertet werden. ChatGPT sollte man nicht mit datenschutzrelevanten Angaben füttern. Wenn ich ein Anschreiben formulieren lassen will, sollten keine Mandantennamen, Geburtsdaten usw. eingegeben werden. Natürlich muss OpenAI, der Entwickler von ChatGPT offenlegen, welche Daten verarbeitet werden. Ein Verbot von ChatGPT, wie jetzt in Italien, halte ich aber grundsätzlich nicht für sinnvoll.
Vielen Dank, Herr Professor Dirksen!
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Christian Noe ist Rechtsanwaltsfachangestellter und freier Journalist. Als langjähriger Autor für verschiedene Medien verfasst er Beiträge für Juristen und das Fachpersonal in den Rechtsberufen in den Themenfeldern Ausbildung, Digitalisierung, Rechtsprechung und Kanzleiorganisation. Er konzipiert Lehrmaterialien und Grafiken und spricht mit erfahrenen Juristen und Branchenexperten über Wirtschaftsthemen und die Entwicklungen im deutschen und internationalen Rechtsmarkt.