Wiederaufnahme StPO

Von Detlef Burhoff

Mit der Ende 2021 in Kraft getretenen Reform der Strafprozessordnung sollte die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zu Ungunsten eines Angeklagten ermöglicht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung nun in seinem Urteil vom 31. Oktober 2023 für verfassungswidrig erklärt und den Grundsatz ne bis in idem bekräftigt. In diesem Beitrag soll auf den Inhalt der Entscheidung zur Wiederaufnahme nach § 362 StPO näher eingegangen werden.

I. Neuregelung des § 362 StPO

Durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ vom 21.12.2021 (BGBl I, S. 5252) wurde Ende 2021 in § 362 StPO eine neue Nr. 5 eingefügt. Danach kann bei bestimmten schweren Delikten, z. B. Mord, das Strafverfahren, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, auch zu Ungunsten des Verurteilten wieder aufgenommen werden. Um diese Änderung, die u. a. auf die Bemühungen von Angehörigen eines Mordopfers zurückgeht – Stichwort: Frederike Möhlmann – hatte es vorab und im Gesetzgebungsverfahren erheblichen Streit gegeben. Letztlich haben dann aber Bundestag und Bundesrat die Neuregelung gebilligt bzw. den Vermittlungsausschuss nicht angerufen (vgl. BR-Drucks. 622/21). Auch der Bundespräsident hat dann noch länger, nachdem das Gesetz den Bundesrat am 17.9.2021 passiert hatte, mit der Ausfertigung gezögert. Das Gesetz ist dann aber schließlich am 30.12.2021 in Kraft getreten.

II. Der Ausgangsfall

Schon alsbald nach ihrem Inkrafttreten ist die Regelung (erstmals) angewendet worden. Und zwar in dem Verfahren „Frederike Möhlmann“, in dem der Angeklagte 1983 vom Vorwurf des Mordes und der Vergewaltigung des 17 Jahre alten Opfers im Jahr 1981 rechtskräftig freigesprochen wurde. Erst 2012 konnte in diesem Verfahren aufgefundenes Spurenmaterial, und zwar DNA-Spuren, dem Angeklagten zugeordnet werden. Die Staatsanwaltschaft beantragte auf der Grundlage der Neuregelung die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten hinsichtlich des Mordvorwurfs und den Erlass eines Haftbefehls. Das LG hatte die Wiederaufnahme gestützt auf § 362 Nr. 5 StPO für zulässig erklärt und Haftbefehl erlassen. Das OLG Celle (Beschl. v. 20.4.2022 – 2 Ws 62/22 u. 2 Ws 86/22, u. a. StraFo 2022, 245) verwarf die hiergegen erhobenen Rechtsmittel mit umfangreicher Begründung. Auf die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde des Angeklagten hatte das BVerfG diese Beschlüsse aufgehoben und die zugrundeliegende Norm des § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig und nichtig erklärt (Urt. v. 31.10. 2023 – 2 BvR 900/22).

III. Zur Entscheidung des BVerfG

1. Selbsterklärende Leitsätze

Das BVerfG begründete seine Auffassung von der Verfassungswidrigkeit der Regelung auf rund 60 Seiten eingehend. Es stellte seiner Entscheidung Leitsätze voran, die die Rechtsansicht des Gerichts sehr schön zusammenfassen, und zwar:

  1. Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.
  2. Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.
  3. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt.
  4. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.
  5. Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.
  6. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.

2. Überblick zum Entscheidungsinhalt

Aus der umfassenden Begründung sollen hier nur zwei Aspekte, die das BVerfG anführt, angesprochen werden.

Zu Art. 103 Abs. 3 GG, der den Grundsatz „ne bis in idem“ regelt, stellt das BVerfG fest, dass es sich insoweit um ein grundrechtsgleiches Recht handelt. Dieses gewährt einem Verurteilten oder Freigesprochenen ein subjektives grundrechtsgleiches Recht. Es gewährt dem Einzelnen Schutz, den dieser als individuelle Rechtsposition geltend machen kann. Dieser Schutz steht bereits einer erneuten Strafverfolgung entgegen. Gegenüber dem Gesetzgeber entfaltet Art. 103 Abs. 3 GG keine andere Wirkung, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.

Art. 103 Abs. 3 GG räumt dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit ein. Eine Ausweitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums zur Regelung der Wiederaufnahme von Strafverfahren kann auch nicht auf die Belange der Opfer und ihrer Angehörigen gestützt werden. Es handelt sich um ein abwägungsfestes Verbot, das in Abgrenzung zu den allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien eng auszulegen ist. Im Rahmen seines (begrenzten) Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber zwar nicht generell die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Die fortlaufende Verbesserung der Ermittlungsmethoden stellt nach Auffassung des BVerG die Rechtsstaatlichkeit der früheren Strafverfolgung nicht infrage.

Hinsichtlich des Rückwirkungsverbots aus Art. 103 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG geht das BVerfG davon aus, dass dieses durch die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, verletzt wird. Bei § 362 Nr. 5 StPO handelt es sich um eine „echte“ Rückwirkung, die auch nicht ausnahmsweise zulässig ist. Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO erfasst nämlich auch Freisprüche, die bereits vor ihrem Inkrafttreten in rechtskräftig geworden sind.

Erfolgt die Wiederaufnahme aufgrund einer Norm, die erst nachträglich in Kraft tritt, ändere sie die Rechtsfolgen eines Freispruchs. Diese „echte“ Rückwirkung ist nicht ausnahmsweise verfassungsrechtlich zulässig. Eine Ausnahme folgt nicht aus der Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte. Unerheblich ist auch, ob der Betroffene zum Zeitpunkt seines Freispruchs wusste, dass das Urteil materiell-rechtlich falsch war. Die vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 362 Nr. 5 StPO insgesamt beabsichtigte Verwirklichung des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit verdrängt die zentrale Bedeutung der Rechtssicherheit für den Rechtsstaat nicht. Der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen und der Fortbestand dieses Freispruchs sind unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls nicht „unerträglich“, sondern vielmehr Folge einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung, in der der Zweifelsgrundsatz eine zentrale Rolle spielt.

IV. Kurze Einschätzung

Wir werden zu dieser Entscheidung sicherlich noch viele Anmerkungen und Besprechungen lesen. Die Auffassung des BVerfG lässt sich in dem Satz: Schluss ist Schluss, zusammenfassen. Darüber wird man diskutieren können. Das ist offensichtlich auch beim BVerfG geschehen. Das zeigen die beiden Sondervoten der Richter Müller und Langenfeld. Angehörigen von Opfern wird die Entscheidung nicht gefallen, was das BVerfG ausdrücklich hervorhebt. Auch die sog „breite Öffentlichkeit“ wird nur wenig Verständnis zeigen.

Zudem ist die Argumentation des BVerfG zur Frage, ob die Formulierung „mehrmals bestraft“ in Art. 103 Abs. 3 GG auch einen Freispruch erfasst, nicht zwingend, wenn man sich die anderen Wiederaufnahmegründe in § 362 Nr. 1 bis 4 StPO in Gedächtnis ruft, worauf auch die beiden Sondervoten hinweisen. Andererseits darf man nicht übersehen, dass das BVerfG das hohe Gut der Rechtssicherheit über die – ggf. auch nur gefühlte – materielle Gerechtigkeit stellt. Damit wird man leben können, ja müssen. Denn: Karlsruhe locuta, causa finita.

Und: Die Entscheidung ist keine Schlappe für die amtierende Bundesregierung. Denn diese hat die Neuregelung des § 362 Nr. StPO von der Vorgängerregierung „geerbt“. Der amtierende BMJ, der nach seinem Amtsantritt für eine Überprüfung plädiert hatte, hat nichts anderes mehr getan/tun müssen, als auf die Entscheidung aus Karlsruhe zu warten.

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Rechtsanwalt und RiOLG a.D. Detlef Burhoff ist Herausgeber, Autor oder Mitautor einer Vielzahl von Fachbüchern aus den Bereichen Strafrecht, Verkehrsrecht, Ordnungswidrigkeitenrecht sowie der Rechtsanwaltsvergütung. Daneben ist er Herausgeber von Fachzeitschriften zu den vorgenannten Themen (StRR und VRR) und unterhält die Internetseiten www.burhoff.de sowie blog.burhoff.de.

Bild: Adobe.Stock/nmann77

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