Befangenheitsantrag im Strafverfahren

Von Detlef Burhoff

In Teil 1 der zweiteiligen Artikelreihe zum Befangenheitsantrag wurde thematisiert, welche Punkte im (Ablehnungs)Verfahren zu beachten sind. Nun behandeln wir im zweiten Teil, welche Ablehnungsgründe gerechtfertigt bzw. nicht gerechtfertigt sind.  

I. Allgemeines zum Begriff der Befangenheit

Befangenheit wird in Rechtsprechung und Literatur (vgl. die Nachweise bei Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., 2022, Rn 16 ff., oder bei Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2022, Rn. 8 ff., 52 ff.) als die innere Haltung eines Richters angesehen, die seine erforderliche Neutralität, Distanz und Unparteilichkeit gegenüber den Verfahrensbeteiligten störend beeinflussen kann. Das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes ist grundsätzlich vom Standpunkt eines „vernünftigen“ Ablehnenden aus zu beurteilen. Es genügt die Besorgnis der Befangenheit. Ob der Richter oder die Richterin tatsächlich befangen ist, ist unerheblich.

Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit ist nach § 24 Abs. 2 StPO nur gerechtfertigt, wenn der Beschuldigte/Angeklagte aufgrund des ihm bekannten Sachverhalts auch bei verständiger Würdigung der Sachlage Grund zu der Annahme hat, der abgelehnte Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen könne. Für das Ablehnungsbegehren müssen vernünftige Gründe vorgebracht werden, die jedem unbeteiligten Dritten einleuchten. Es kommt also auf einen vernünftigen Ablehnungsberechtigten an. Unerheblich ist auch, ob der Richter oder die Richterin sich selbst für befangen hält.

Die eigentlichen Ablehnungsgründe sind in der Generalklausel „wegen Besorgnis der Befangenheit“ zusammengefasst und nicht wie bei den Ausschließungsgründen enumerativ aufgezählt. Daher hat sich zur Frage der Befangenheit eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt, die in vier große Gruppen eingeteilt werden kann: das eigene Verhalten des Ablehnenden, die Vortätigkeit des Richters, das Verhalten oder Äußerungen des Richters und die sog. persönlichen Verhältnisse.

II. (Nicht) gerechtfertigte Ablehnungsgründe

1. Eigenes Verhalten des Ablehnenden

Aus seinem eigenen Verhalten kann der Ablehnende grundsätzlich keinen Ablehnungsgrund herleiten. Er hätte es sonst in der Hand, sich nach Belieben jedem Richter zu entziehen und die Besetzung der Richterbank zu manipulieren. Es rechtfertigt daher die Ablehnung nicht, dass der Angeklagte gegen den Richter eine Strafanzeige wegen angeblicher Rechtsbeugung erstattet hat, gegen ihn Dienstaufsichtsbeschwerde erhoben oder ein Disziplinarverfahren beantragt ist. Zur Ablehnung berechtigt es auch nicht, wenn der Richter wegen eines beleidigenden oder provozierenden Verhaltens eines Angeklagten oder seines Verteidigers Strafanzeige erstattet (wegen der Einzelheiten Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., 2022, Rn 36 ff. oder  Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2022, Rn. 93 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen).

2. Vortätigkeit des Richters

Die Vortätigkeit des Richters ist, wenn sie das Gesetz nicht ausdrücklich zu einem Ausschließungsgrund nach den §§ 22, 23 StPO erhoben hat, grundsätzlich ebenfalls kein Ablehnungsgrund, sofern zu ihr nicht besondere Umstände hinzukommen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen (vgl. zuletzt u.a. BGH, StraFo 2018, 429). Ein Richter ist daher nicht schon allein deshalb befangen, weil er mit dem Sachverhalt bereits befasst war. Denn ein verständiger Angeklagter kann und muss davon ausgehen, dass der Richter sich dadurch nicht für künftige Entscheidungen festgelegt hat. Seine Beteiligung an der Eröffnung des Hauptverfahrens begründet daher grundsätzlich nicht die Ablehnung (BVerfG, NJW 1971, 1029; zur Ablehnung wegen Eröffnung des Hauptverfahren vor Ablauf der Erklärungsfrist vgl. LG Berlin, StV 1993, 8). Er ist auch regelmäßig nicht deshalb befangen, weil er bereits in einem anderen (Zivil- oder Straf-)Verfahren mit demselben Sachverhalt dienstlich befasst war und z. B. einen früheren Mitangeklagten wegen der Tat(beteiligung) verurteilt hat, die nunmehr auch Gegenstand des Verfahrens gegen den Angeklagten ist (Burhoff, HV, Rn. 119 ff. mit weiteren Nachweisen). Etwas anderes kann gelten, wenn z. B. die Gründe des früheren Urteils die Besorgnis der Befangenheit begründen (LG Heilbronn, StV 1987, 333), z. B. wenn der jetzige Angeklagte in ihnen als Zeuge für unglaubwürdig angesehen worden ist (OLG Celle, NJW 1990, 1308; vgl. auch LG Bremen, StV 1990, 203; s. dazu auch OLG Bremen StV 1991, 57).

Auch die Mitwirkung an Zwischenentscheidungen im anhängigen Verfahren und die in diesen Entscheidungen geäußerten Rechtsmeinungen rechtfertigen i. d. R. nicht die Ablehnung (Burhoff, HV, Rn. 119 ff. mit weiteren Nachweisen), selbst wenn in ihnen die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten zum Ausdruck gekommen sein sollte (BGH, NStZ 1991, 27). Das gilt auch, wenn die Zwischenentscheidung auf einem Verfahrensfehler, auf einem tatsächlichen Irrtum oder auf einer unrichtigen oder unhaltbaren Rechtsansicht beruht, sofern sie nicht völlig abwegig ist oder sogar den Anschein der Willkür erweckt (vgl. BGH, NJW 1990, 1373).

Ohne Bedeutung ist es schließlich auch, wenn der Vorsitzende zu der bereits geplanten Urteilsverkündung einen schon schriftlich abgefassten Urteilsentwurf benützen wollte. Dagegen berechtigt es zur Ablehnung, wenn der Richter die Urteilsabsetzung bereits während des Plädoyers des Verteidigers beginnt.

3. Verhalten oder Äußerungen des Richters

Das Verhalten des Richters vor oder während der Hauptverhandlung kann die Ablehnung begründen, wenn es besorgen lässt, dass er nicht unvoreingenommen an die Sache herangeht. Die dazu vorliegende Rechtsprechung ist unüberschaubar (vgl. die Zusammenstellungen bei Burhoff, EV, Rn. 34 ff. bzw. Burhoff, HV, Rn. 97). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Richter bereits von der Schuld des Angeklagten endgültig überzeugt zu sein scheint.

Das ist in folgenden Fällen bejaht worden:

  • Der Richter betrachtet die dem Angeklagten zur Last gelegten Vorgänge der Presse gegenüber als schon feststehend oder gibt entsprechende Äußerungen gegenüber dem Verteidiger ab, oder er gibt schon in einer Zwischenentscheidung trotz unsicherer Beweislage in sicherer Form seiner Überzeugung von der Schuld des Angeklagten Ausdruck.
  • Das Äußern einer Rechtsansicht vor der Hauptverhandlung ist hingegen kein Ablehnungsgrund.

Bei der Verhandlungsführung ist Misstrauen in die Unvoreingenommenheit des Richters gerechtfertigt, wenn sie rechtsfehlerhaft, unangemessen oder sonst unsachlich ist.

Das ist z. B. der Fall, wenn

  • der Richter dem Angeklagten bewusst das rechtliche Gehör versagt oder
  • das Fragerecht unberechtigt beschränkt, wenn er grob unsachlich seinen Unmut über Beweisanträge des Verteidigers äußert,
  • wenn er den Angeklagten bedrängt, ein Geständnis abzulegen oder sich zur Sache einzulassen,
  • den Angeklagten sonst unangemessen oder ehrverletzend behandelt,
  • bei der Vernehmung eines Zeugen erkennen lässt, dass er sich in der Beurteilung der Aussage als unwahr schon endgültig festgelegt hat,
  • wenn er dem Verteidiger erklärt, er werde die Hauptverhandlung nicht „platzen“ lassen, auch auf die Gefahr hin, dass das Urteil aufgehoben werde,
  • wenn der Pflichtverteidiger von seinem Mandat nur deshalb entbunden wird, weil er einen Pullover unter der Robe getragen hat, ohne dass erkennbar war, ob er einen Langbinder trug,
  • der Staatsanwaltschaft Zusagen hinsichtlich des Strafmaßes macht, nur um sie zur Zurücknahme eines Antrags zu bewegen,
  • wenn bei der Staatsanwaltschaft die Erhebung einer Nachtragsanklage angeregt wird.
  • Wenn „Vergleichsgespräche“ geführt werden, bei denen der Angeklagte aufgrund des Verlaufs der Gespräche befürchten muss, er habe unabhängig vom weiteren Verlauf der Verhandlung Nachteile zu erwarten.

Ein aus dem Verhalten oder Äußerungen des Richters abgeleiteter Ablehnungsgrund ist in folgenden Fällen hingegen grundsätzlich verneint worden:

  • wegen des Rates, ein Rechtsmittel wegen geringer Erfolgsaussichten zurückzunehmen,
  • wenn der Vorsitzende dem Angeklagten in nachdrücklicher Weise Vorhalte gemacht hat,
  • wegen nach der Sachlage verständlicher Unmutsäußerungen,
  • sowie wegen sachlich gerechtfertigter sitzungspolizeilicher Maßnahmen,
  • wenn der Richter außerhalb der Hauptverhandlung Kontakt zu einem Mitangeklagten aufnimmt,
  • Fehler bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung passieren, sowie
  • Verfahrensverstöße oder fehlerhafte Entscheidungen, wie sie jedem Richter unterlaufen können, es sei denn, sein prozessuales Vorgehen entbehrt einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage und erscheint willkürlich. Der Richter darf aber nicht massiv gegen das Strafverfahrensrecht verstoßen.

4. Persönliche Verhältnisse des Richters

Die persönlichen Verhältnisse des Richters können die Ablehnung begründen, wenn deshalb die Besorgnis begründet ist, dass er nicht unvoreingenommen an die Sache herangehen wird (Burhoff, EV, Rn. 23 ff. und Burhoff, HV, Rn. 86 ff.). Das kann z. B. bei einer Ehe, einem Verlöbnis oder einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit einem der Verfahrensbeteiligten in Betracht kommen. Insbesondere in diesen Fällen ist aber ggf. eine Gesamtschau vorzunehmen (BGH, StV 2013, 372; KG, NJW 2009, Das gilt insbesondere auch für die Ehe zwischen Richter und sachbearbeitender Staatsanwältin (vgl. AG Kehl NStZ-RR 2014, 224 [Ls.]; s. aber AG Kehl, Beschl. v. 16.12.2020 – 5 OWi 505 Js 15819/20).

Fraglich ist, inwieweit das persönliche Verhältnis zwischen Verteidiger und Gericht den Beschuldigten/Angeklagten ggf. zur Ablehnung berechtigt. Die h. M. geht davon aus, dass das nur dann der Fall ist, wenn der Beschuldigte/Angeklagte davon ausgehen muss, dass das Gericht seine ggf. gegenüber dem Verteidiger bestehende Animosität auch auf den Beschuldigten/Angeklagten überträgt (vgl. z. B. BGH NStZ 2020, 495).

Allein wegen der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, einer Religion, Weltanschauung, ethnischen Gruppe, einem anderen Geschlecht oder einem bestimmten Familienstand wird der Richter i. d. R. nicht abgelehnt werden können.

Weitere Beiträge

Rechtsanwalt und RiOLG a.D. Detlef Burhoff ist Herausgeber, Autor oder Mitautor einer Vielzahl von Fachbüchern aus den Bereichen Strafrecht, Verkehrsrecht, Ordnungswidrigkeitenrecht sowie der Rechtsanwaltsvergütung. Daneben ist er Herausgeber von Fachzeitschriften zu den vorgenannten Themen (StRR und VRR) und unterhält die Internetseiten www.burhoff.de sowie blog.burhoff.de.

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