agile Kanzlei

Von Dr. Anette Schunder-Hartung

Agiles Arbeiten ist zum Modebegriff geworden. Seit geraumer Zeit fluten einschlägige Ratgeber den Markt, die versprechen, „Ihr Unternehmen dynamischer, flexibler und leistungsfähiger zu gestalten“[1] und „fokussiert, schnell und flexibel zum Erfolg“[2] zu gelangen. Grob gesagt, geht es dabei um sich herantastende Vorgehensweisen bei verstärkter Selbststeuerung in bestimmten Rahmenstrukturen. Aber bietet die agile Arbeit in Kanzleien einen echten Mehrwert für Anwälte und Anwältinnen?

Die Frage nach dem Warum: Von Fischen und Anglern

Kanzleien sind Wirtschaftsunternehmen, einerseits. Und zwar solche, die in einem zunehmend heiklen wirtschaftlichen Umfeld navigieren[3]. Andererseits weisen sie gegenüber anderen Unternehmen zahlreiche Besonderheiten auf – darunter objektiv die eines überproportional großen Anteils an mitspracheberechtigten Partnern. Während in anderen Konzernen und Betrieben bei aller Teilhabe doch regelmäßig durchstrukturierte Hierarchien anzutreffen sind, dominieren in mancher Sozietät die Anteilseigner das Geschehen nicht nur gefühlt, sondern nahezu nach Köpfen. Das verkompliziert Einigungsprozesse in einem Maße, wie man es sich draußen kaum vorstellen kann.

Subjektiv ist zudem eine gewisse Grundreserviertheit bei überdurchschnittlicher Veränderungsresistenz zu beobachten, wenn man Jurist:innen mit anderen Berufsgruppen vergleicht. Beides zusammengenommen führt in vielen Fällen und/oder Teilbereichen zu jahrelangem Stillstand selbst auf Kernfeldern der Geschäftsentwicklung[4].

Als heikel hat sich dieser Umstand schon in den Zehnerjahren bei zunehmender Beschleunigung der digitalen Transformation erwiesen. Während beispielsweise im Bankwesen schon längst nicht mehr über das „Ob“, sondern über den besten Robo-Advisor diskutiert wurde, behaupteten viele Anwältinnen und Anwälte noch immer ungerührt, ihre Rechtsdienstleistungen seien unautomatisierbar. Welche ernsthafte Konkurrenz Onlinedienste in juristischen Alltagsfragen für viele Kolleginnen und Kollegen darstellen, tritt erst jetzt allmählich zutage.

Und nun die Veränderung der Arbeitswelt im Zuge der Covid-19-Krise: Wir leben in einer VUKA-Welt, die kompliziert ist, schnell, unsicher und unvorhersehbar. Genau dafür stehen nämlich die Anfangsbuchstaben Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz bzw. Ambiguität. Seit Beginn des letzten Jahres ist das Veränderungstempo dann noch einmal weiter hochgeschnellt. Allenthalben werden neue Arbeitsmodelle erprobt und eingefordert … und wieder sollen Anwaltskanzleien „ohne“ auskommen? Aber vielleicht ist ja das agile Unternehmen auch nur ein Phantom?

Vom Ich zum Wir? Leitimpulse für agile Führung

Die Unternehmensrealität spricht eine andere Sprache. Hier haben sich selbst große DAX-„Tanker“ wie die Automobilhersteller BMW und Mercedes und der Versicherungskonzern Allianz agilen Arbeitsformen verschrieben. Für den Energieriesen E.ON wiederum hat unlängst Martin Kistermann im Rahmen der Tochtergesellschaft eprimo GmbH die Herausforderung übernommen, eine hierarchische Organisation in eine agile Organisation zu überführen. Seine Erfahrungen schildert er ebenso ausführlich wie anschaulich in unserem aktuellen Buch[5]. Dabei geht es um die Grundlagen einer Strukturänderung ebenso wie um mobiles Arbeiten im agilen Kontext.

Einem Angelausflug gleicht das Ganze danach nicht. So geraten nicht nur die Führungskräfte unter erheblichen Veränderungsdruck. Auch die Personalauswahl verändert sich. Als Leitimpulse formuliert Kistermann die Entwicklungen:

  • vom Ich zum Wir,
  • von der Anpreisung zur Selbstverantwortung,
  • vom Mitspracherecht zur Mitsprachepflicht und
  • vom Fehlervermeiden zum Ausprobieren.

Da hier aber wie überall sonst im Wirtschaftsleben der Leitsatz gilt, dass der Köder dem Fisch schmecken muss, wird sich die mitarbeiter- und mandantenangelnde Kanzlei sich dem nicht verschließen können. Schwierig oder nicht: Wenn und sobald wirtschaftliches Umfeld und Leuchtturmmandanten sich agilen Konzepten annähern, führt auch für Kanzleien daran kein Weg vorbei.

Die agile Kanzlei in der Praxis

Eines vorweg: Agiles Arbeiten ist auch eine Organisationsform. Kennzeichnend für ein agiles Projektmanagement ist ein eingangs eher unscharfes Anforderungsprofil, an den sich kein sequenzieller, sondern ein sich schleifenförmig wiederholender Entwicklungsprozess anschließt. Dabei gibt es viel Spielraum für Versuch, Irrtum, frühzeitiges Feedback und Nachbesserung. Statt zahlreicher separater Spezialisten im Team dominiert die gemeinsame Verantwortung. Auch die Aufwandsschätzung erfolgt gemeinsam im Team.

Damit der Prozess organisatorisch nicht aus dem Ruder läuft, haben sich bestimmte Techniken wie das Anlegen von (Achtung, feststehende englischsprachige Begriffe:) Task Boards und das Durchführen täglicher Daily Standup-Meetings bewährt. Im Rahmen von Timeboxings und Definitions of Done (DoDs) gibt es wirklich feste Zeit- und Fertigstellungfestlegungen usw. In methodischer Hinsicht hat sich zudem die Arbeit mit sog. Scrum-Teams durchgesetzt, die gegenüber den Stakeholdern in Mandantschaft, Kanzleimanagement usw. als Product Owner, Entwickler und Scrum Master für den Erfolg, die technischen Funktionalitäten und das Rahmenwerk des Projektes geradestehen. Gearbeitet wird in Entwicklungszyklen von meist einer bis vier Wochen, den Sprints, und zwar auf ein im Scrum-Team definiertes Sprint-Ziel hin. Dabei passt das Team seine Vorgehensweise und Zielanforderungen, das Product Backlog, fortlaufend an.

Damit ist es aber nicht getan: Entscheidend ist die innere Einstellung. Ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg agiler Konzepte ist die Haltung, mit der die Beteiligten an den Wandlungsprozess herangehen. Und an diesem Punkt geht es natürlich nicht von heute auf morgen: Wer sequenziell geordnete Abläufe gewohnt ist, dem mögen die so typischen Rückkopplungsschleifen nicht ohne Weiteres liegen. Hier heißt es:

  • Verstehen,
  • beobachten,
  • einen Standpunkt entwickeln und einnehmen,
  • Ideen kreieren,
  • (frühzeitig) einen Prototyp für das angedachte Produkt bzw. die angedachte Dienstleistung entwickeln,
  • testen und
  • einen Rückbezug herstellen,

und das immer wieder, und immer gerne immer wieder von vorne. Zudem steigt der Abstimmungsbedarf, und das, um noch einmal Kistermann zu zitieren, nicht nur untereinander, sondern auch mit nicht agil arbeitenden Partnern. Hier ist zu klären:

  • Ist die Sprache die gleiche?
  • Wem muss ich welche Mitteilung machen?
  • Mit wem habe ich mich abzustimmen?

Schließlich sind – auch durch die oben schon angesprochenen Rollenzuweisungen – einige grundlegende Missverständnisse von vornherein aktiv zu vermeiden:

  • Selbstorganisation ist nicht Selbstverwirklichung, und
  • cheflos ist nicht dasselbe wie führungslos, denn
  • ein Ziel steht fest: Das Ergebnis muss auch am agilen Ende stimmen!

Insoweit sind nicht nur Änderungsbereitschaft, sondern auch Selbstdisziplin und Kritikfähigkeit jeder und jedes Einzelnen gefragt.

Die Frage nach dem Wie: Wir bauen einen Spaghettiturm

Wohin traditionelle Zusammenarbeit einerseits, agile Zusammenarbeit andererseits führen können, zeigt schließlich ein berühmtes Teambuilding-Spiel. Die auf Peter Skillman zurückgehende „Marshmallow Challenge“ verlangt von kleinen Teilnehmergruppen den Bau eines möglichst hohen Turms aus ungekochten Spaghetti mit einem Marshmallow als krönendem Abschluss.

Dabei sollen Gruppen aus jeweils vier Personen innerhalb von 18 Minuten 20 Spaghetti, eine 1 m lange Klebebandrolle, eine ebenso lange Bindfadenrolle, ein normal großes Marshmallow, eine Schere und eine rutschfeste Unterlage für den Tisch zu einem Bauwerk mit dem Marshmallow an der Spitze verbinden. Wer den höchsten Turm errichtet, gewinnt. Ich selbst habe mir bei diesem Spiel, wie es meine (mittlerweile erwachsenen) Kinder seinerzeit formuliert hätten, „echt den Frust geholt“. Wie viele Erwachsene war ich anfangs darauf trainiert, für unseren Turm die optimale Lösung zu finden.

Als ich das Experiment später in einer meiner aHa-Kanzleireihen wiederholte, zeigte sich dasselbe Bild: Alle Beteiligten ergingen sich erst einmal in ausgiebigen Planungsgesprächen. Als sie schließlich zur Tat schritten, waren schon viele Minuten verstrichen. Diese Zeit fehlte den Beteiligten durchweg zum Ende hin. Wenn sie schließlich das Marshmallow auf die Spitze steckten und die ganze Konstruktion zusammenbrach, hatten sie kaum mehr Zeit eine neue zu bauen – und erlebten wie ich eine klassische Ergebniskrise.

Umso erstaunter waren wir dann über ein Video von Wujec mit dem aufschlussreichen Titel: „Kindergartenkinder schlagen BMWler“. Anders als wir Anwältinnen und Anwälte, anders auch als die BMW-Kolleg:innen, hatten die Kleinen gleich begonnen mit dem Bauen von Prototypen – einen nach dem anderen. Ihre Konstruktionen, anfangs recht ulkig, wurden ständig besser, und schließlich hielten sie im wahrsten Wortsinne stand. Wobei alle beteiligten Kinder unmittelbar Feedback darüber bekamen, was funktionierte und was nicht, und sich zudem prächtig miteinander amüsierten.

Fazit – verändertes Selbstverständnis der Beteiligten

Das Marshmallow-Experiment zeigt es: Probieren geht über Studieren. Dabei wird nicht alles zu jeder Zeit und in jeder Konstellation funktionieren, das ist aber auch gar nicht erforderlich. Dass die Kanzleiaußenwelt zunehmend agiler wird, ist aber Grund genug, sich dem agilen Arbeiten auch hier einmal zuzuwenden. Das gilt sowohl objektiv-konzeptionell, als auch vor allem subjektiv mit Blick auf die damit verbundene Arbeitshaltung. Im Kern ist die agile Kanzlei nämlich keine veränderte Organisationsform, sondern vor allem mit einem weniger traditionellen, fortschrittlicheren Selbstverständnis ihrer Protagonisten verbunden.

Drei Tipps für die agile Kanzlei: 

  • Für agile Arbeitsformen könnte das Kästner’sche Sprichwort, „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, geradezu erfunden worden sein. Auf die Gefahr hin, dass nicht alles gleich glattläuft: Legen Sie einfach los. „Fail fast“, das schnelle vorläufige Scheitern, gehört zu den Erfolgsrezepten agilen Arbeitens.
  • Agile Transformation muss vorgelebt werden – das heißt, sie beginnt auf der Führungsebene. In der Kanzlei ist die Partnerschaft daher von Anfang an sichtbar in agile Handlungsmuster und -prozesse einzubeziehen. Und so sehr die vorgenannten Fehler erlaubt sind: Abfällige Bemerkungen und eine Abkehr hinter verschlossenen Türen verbieten sich.
  • Es muss nicht gleich „Die agile Kanzlei“ als solche sein, die der herkömmlich arbeitenden Kanzlei nachfolgt. Aber gerade weil es hier nicht nur schwarz und weiß gibt, sollten Sie nicht alles beim Alten lassen. Der Markt der Zwanziger Jahre wird es Ihnen danken.

Weitere Beiträge

Dr. Anette Schunder Hartung ist seit über 30 Jahren Juristin und war in dieser Zeit in unterschiedlichen Positionen tätig, u. a. viele Jahre lang als Schriftleiterin der NJW-Gruppe, zuletzt als Chefredakteurin des Anwaltshandbuchs Kanzleien in Deutschland. Zudem hatte die Rechtsanwältin an der Frankfurter Universität von 2008 bis 2013 den Lehrauftrag für Vergaberecht inne. Seit 2015 berät sie als Inhaberin von aHa Strategische Geschäftsentwicklung mit ihrem Team Kanzleien, Unternehmen, Medienhäuser und Hochschulen.
www.aha-entwicklung.de

 

[1] Scheller, Auf dem Weg zur agilen Organisation, München 2017.

[2] Braun/Krauß, Agile Power Guide, Düsseldorf 2019.

[3] Schunder-Hartung, Erfolgsfaktor Kanzleikultur, Wiesbaden 2020.

[4] vgl. Schunder-Hartung, Neue Handlungsmuster für das digitale Zeitalter, in: Schulz/Schunder-Hartung, Recht 2030, Frankfurt 2019.

[5] Schunder-Hartung/Kistermann/Rabis, Strategien für Dienstleister, Wiesbaden 2021.

Foto: Adobe Stock/Nicolas Herrbach

Mit dem MkG-Newsletter erhalten Sie alle sechs Ausgaben pro Jahr
pünktlich zur Veröffentlichung per Mail – zu Themen, die Sie weiterbringen:

  • Aktuelle Gesetzesänderungen,
  • Tipps zur optimalen Abrechnung,
  • Karrierechancen, Kanzleiführung u. v. m.