Das anwaltliche Werberecht liberalisiert sich zunehmend. Unter der bis 2004 gültigen BRAGO und dem RVG in der Fassung bis zum 1.7.2006 waren kostenfreie Erstberatungen durch Anwaltskanzleien noch generell verboten, so wie heute weiterhin für Steuerberater oder auch Rechtsanwälte, wenn sie Hilfeleistung in Steuersachen erbringen (vgl. OLG Nürnberg, Urt. v. 18.11.2014 – 3 U 954/14).
Am 1.2.2010 erging eine erste Entscheidung des Anwaltsgerichts München (Az. 3 AnwG 51/09), die zumindest eine telefonische Erstberatungen erlaubte, mit der Begründung, dass das RVG seit dem 1.7.2006 in § 34 RVG keine Mindestgebühren für Beratungen mehr vorsehe. Wenn es aber keine gesetzlichen Mindestgebühren für Erstberatungen mehr gebe, könne auch die kostenfreie telefonische Erstberatung nicht verboten sein.
Später folgten das Landgericht Essen (Urt. v. 10.10.2013 – 4 O 226/13) und der Anwaltsgerichtshof Hamm (Urt. v. 9.5.2014 – 1 AGH 3/14), die beide kostenfreie anwaltliche Erstberatungen übereinstimmend nicht länger als Berufsrechtsverstoß oder wettbewerbswidrig ansahen. Der 1. AGH-Senat vertrat in seinem Urteil vom 9.5.2014 jedoch noch die Auffassung, dass Rechtsanwälte zwar kostenfreie Erstberatungen erbringen, aber – wenig nachvollziehbar – nicht mit „Gutscheinen“ in Zeitungsanzeigen hierfür werben dürften.
Dem ist der in Hamm für das Disziplinarrecht zuständige 2. AGH-Senat im Beschluss vom 3.6.2016 (Az. 2 AGH 1/16) nun entgegengetreten und hat auch Gutschein-Werbung in Zeitungen oder im Internet für kostenfreie Erstberatungen für generell zulässig erklärt.
Wofür sind diese Erstberatungs-Gutscheine gut?
1. Sie können dabei helfen, die Fallliste (§ 6 Abs. 3 FAO) für Fachanwaltsanträge zu vervollständigen. Wer in einem der inzwischen 23 Rechtsgebiete einen Fachanwaltstitel beantragen möchte, muss die Bearbeitung einer bestimmten Anzahl praktischer Fälle nachweisen. Voraussetzung für „einen Fall“ ist jedoch nicht, dass dieser abgerechnet wurde, und die FAO fragt auch nicht, auf welchem Weg der Fachanwaltsanwärter ihn akquiriert hat. Auch Beratungsfälle, wenn sie durch Aktennotizen entsprechend umfangreich dokumentiert wurden, zählen mit. So ergibt sich eine Win-win-Situation: Der Rechtsanwalt berät kostenfrei. Der Mandant ist zufrieden, für die Beratung nicht zahlen zu müssen. Aber der Rechtsanwalt erwirbt auf diesem Weg zumindest einen weiteren Fall, der ihn näher an das Ziel des Fachanwaltstitels bringt, was sich später finanziell für ihn auszahlt – oder gar einen über die Beratung hinausgehenden Auftrag nach sich zieht (dann ginge die Beratungsgebühr ohnehin in der Geschäftsgebühr auf).
2. Rechtsschutzversicherungen betreiben eine zunehmend aggressive Unternehmenspolitik: Am liebsten würden sie die freien Rechtsanwälte aus dem Markt verdrängen und für ihre Versicherungsnehmer selber Rechtsdienstleistungen erbringen, was ihnen als Schadensversicherung unter dem RDG jedoch bislang nicht gestattet ist. Also versuchen sie neuerdings, im Bedarfsfall den „Erstzugriff“ auf ihre Versicherungskunden zu erlangen, indem sie ihnen kostenfreie Beratungshotlines anbieten. Diese bemühen sich sodann, sie hiernach von der freien Anwaltswahl abzuhalten und in einem „aktiven Schadensmanagement“ solchen Kanzleien zuzuleiten, die den Rechtsschutzversicherern genehm sind, d.h. auf Basis von Rationalisierungsvereinbarungen billiger abrechnen, in Zweifelsfällen von Prozessen abraten und „Pseudo-Mediation“ praktizieren.
Wer als Rechtsuchender hingegen einen Erstberatungsgutschein vorfindet, kann sich die Einholung einer Deckungszusage zunächst sparen und sich ohne Scheu vor Kosten unmittelbar an einen Anwalt wenden. Dieser hat den Mandanten auf diese Weise für sich akquiriert und ihn dem Erstzugriff der Rechtsschutzversicherungen entzogen.
Denn: Auch die Werbung mit der kostenfreien Einholung einer Deckungszusage hat der AGH Hamm gestattet.
3. Sind die Gutscheine stilvoll und ansprechend gestaltet, brauchen Anwälte keine Furcht vor einem Reputationsverlust zu haben, dass sie fortan im Markt als „billig“ gelten würden: Couponing ist in der gewerblichen Wirtschaft allerorts schließlich auch akzeptiert. Sind die Coupons originell gestaltet, werden sie sicherlich auf entsprechende Aufmerksamkeit stoßen, und solange Grafik und Text das Sachlichkeitsgebot des § 43b BRAO im Übrigen nicht verletzen, können konkurrierende Kanzleien und die RAK dagegen nun nichts mehr einwenden.