Der Deutsche Anwaltstag 2021 fand dieses Jahr vom 7. bis 11. Juni unter dem Motto „Die Anwaltschaft in besonderer Verantwortung – 150 Jahre Deutscher Anwaltverein“ statt. Die Fülle an Vorträgen und Online-Seminaren ermöglichte es, dass eine Bandbreite an Themen abgedeckt und diskutiert wurden: die gesellschaftliche Rolle der Anwaltschaft, Kanzleimanagement-Themen und Legal Tech. Außerdem boten zahlreiche Aussteller-Seminare die Möglichkeit, sich nach Tools und Software-Angeboten umzuschauen. In diesem Beitrag gibt es spannende Erkenntnisse der fünftägigen Online-Veranstaltung zum Nachlesen.
Der Anwaltsberuf im Lichte der Digitalisierung
In der Auftaktveranstaltung am Dienstag wurde der Anwaltsberuf im Lichte der Digitalisierung aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet:
- Digitalisierung in der Anwaltskanzlei
- Regulation
- Legal Tech und Beratung
Den Beginn machten Rechtsanwältin Marlene Schreiber und Rechtsanwalt Prof. Niko Härting, die von der mobilen Arbeit in der Kanzlei HÄRTING Rechtsanwälte berichteten. Diese zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die Anwält:innen keinen festen Arbeitsplatz, sondern sogenannte Terminalarbeitsplätze zugewiesen bekommen: D. h. jeden Tag können die Mitarbeitenden aufs Neue entscheiden, wo sie sitzen möchten. Vorteile dieser Arbeitsweise liegen laut Schreiber in der Unterbrechung der Kanzleihierarchie, dem Austausch mit Kolleg:innen aus anderen Teams und der gesteigerten Produktivität. Die Räumlichkeiten können so zudem effektiv genutzt werden.
Im Anschluss referierte Rechtsanwalt Peter Huppertz über den Gesetzesentwurf zum neuen Vertragsrecht für digitale Inhalte und Dienstleistungen sowie die Auswirkungen auf Rechtsprodukte. Es handelt sich bei dem Gesetzesentwurf um eine EU-Richtlinie, die 2019 beschlossen und bis zum 01.01.2022 in nationales Recht umgesetzt werden muss. Huppertz stellte fest, dass das neue Vertragsrecht teilweise auch auf Legal Tech-Angebote anwendbar sein wird, aber mit der jetzigen Formulierung des Gesetzes große Rechtsunsicherheiten für die Legal Tech-Branche herrscht. Eine Präzisierung des Gesetzentwurfs sei notwendig.
„Legal Tech Enabler und Demand Trigger in Start-ups und Unternehmen – Was heute gefragt ist und morgen interessant werden könnte“ – so der Name des Vortrags von Rechtsanwalt Dr. Mahdi Daneshzadeh Tabrizi. Während die meisten Legal Tech-Anwendungen heute nur Standardprobleme lösten, ist Tabrizi sich sicher, dass Legal Tech-Angebote in Zukunft immer komplexere Probleme lösen werden können. Große Chancen sieht er in den nächsten Jahren im Bereich des Natural Language Processing und für Plattform-Prozess-Anbieter. Bei letzterem bezieht er sich auf Anbieter, die nicht einen kompletten Prozess von A bis Z abbilden wollen, sondern Nutzer:innen eine Toolbox anbieten, aus der sie die Anwendungen wählen können, die sie für ihre Arbeit brauchen.
Acht typische anwaltliche Verhandlungsfehler
„Verhandle nie aus Furcht und fürchte nie eine Verhandlung“, so zitierte Referentin und Anwaltscoach Johanna Busmann John F. Kennedy während ihres Vortrags, der Anwältinnen und Anwälte für professionelle und erfolgreiche Verhandlungen rüsten sollte.
Zu den häufigsten Fehlern, die im Austausch mit Mandantinnen und Mandanten, der gegnerischen Seite und vor Gericht begangen würden, gehörten:
- Fehler: Anwältinnen und Anwälte bereiten sich und ihren Mandant:innen schlecht vor
- Fehler: Dem Gegner erst vor Gericht begegnen
- Fehler: Wichtigkeit von Begrüßung und äußeren Umständen unterschätzen
- Fehler: Zu viel reden, zu wenig fragen, nicht zuhören
- Fehler: Körpersprache nicht taktisch einsetzen
- Fehler: Positionell argumentieren. Interessen vernachlässigen
- Fehler: Einwände fürchten, statt sie zu nutzen und dankbar für die Einblicke zu sein
- Fehler: Beim Erläutern der Gegenleistung schüchtern oder arrogant wirken
Allein durch klare Kommunikation, die Sensibilisierung für nonverbale Signale und den gekonnten Umgang mit Beschwerden und Einwänden seien Verhandlungssituationen mit größerer Souveränität und höheren Erfolgschancen zu meistern.
Künstliche Intelligenz (KI) in zivilrechtlicher Verantwortung
Zusammen mit Prof. Dr. Ansgar Staudinger und Dr. Rupert Bellinghausen ging Prof. Dr. Georg Borges am Mittwoch der Frage auf den Grund, was der vermehrte Einsatz von KI für Haftungs- und Nachweisfragen im Zivilrecht bedeutet. Ein konkreter Anwendungsfall für diese Frage ist zum Beispiel gegeben, wenn ein autonom fahrendes Auto einen Unfall verursacht. Haftet hier das Unternehmen, das das Auto hergestellt hat, oder der Verbraucher, der das Auto „fährt“? Eine Umfrage hierzu ergab, dass 70 Prozent der Befragten den Software-Anbieter oder den Kfz-Hersteller in der Verantwortung sehen. Es ist jedoch nicht einfach damit getan, die Verantwortung für Haftungsfragen dem Unternehmen bzw. Software-Hersteller zuzuweisen. KI-Systeme seien extrem komplex und ihr Verhalten auch für Hersteller langfristig unvorhersehbar, so Dr. Bellinghausen.
Prof. Dr. Staudinger plädierte dafür, dass Zukunftssachverhalte – wie KI – bereits im Voraus geregelt werden sollten. Auf Seiten der EU gebe es bereits Unternehmungen in diese Richtung, konkret den Entwurf des Artificial Intelligence (AI) Act, der den Einsatz von KI regulieren soll. Professor Staudiger kritisierte diesen Vorschlag des EU-Parlaments jedoch als noch nicht ausgereift genug. Es bestünden noch Ungereimtheiten und Lücken sowie eventuelle negative Auswirkungen auf die innerstaatliche Haftungsordnung.
Virtuelle Verhandlungen – ein zukunftsfähiges Modell?
Da Gerichtsverhandlungen immer häufiger im virtuellen Raum stattfinden – besonders befeuert durch die Corona-Pandemie – befassten sich gleich mehrere Vorträge des DAT mit diesem Thema und den Fragen, die virtuelle Verhandlungen auch in rechtlicher Hinsicht aufwerfen.
Richter Benedikt Windau klärte über verbreitete Irrtümer bzgl. virtueller Verhandlungen nach § 128a ZPO auf. Diese seien:
- die ZPO kennt keine Online-Verhandlung, nur besondere Form der Teilnahme
- das Gericht kann eine virtuelle Verhandlung nicht anordnen, nur gestatten
- es gibt keinen Widerspruch, Zustimmung der Parteien ist nicht erforderlich
- das Gericht entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen
Richter Martin Lamsfuß berichtete über die Arbeit und die Erfahrungen mit virtuellen Verhandlungen im Oberlandesgerichtsbezirk Köln. Die Mehrzahl der Sitzungssäle seien technisch voll ausgestattet und selbst Familienrichter, bei denen der persönliche Eindruck eine wichtige Rolle spiele, berichteten von positiven Erfahrungen mit virtuellen Verhandlungen. Er animierte dazu, die Technik auch nach der Pandemie zu nutzen, um von den Vorteilen, wie der Vermeidung von Reisekosten und der erleichterten Terminfindung, zu profitieren. Allen Anwältinnen und Anwälten, die sich noch nicht ausreichend sicher mit der Technik fühlten, empfiehlt er, am Gericht um Testtermine zu bitten.
Bedauerlicher Rückgang der Verträge zur ReFa-Ausbildung – was tun?
Eine Best Practice-Diskussion zum Thema „Bewerbungstraining anders – Erfolgreiche Mitarbeiter:innen finden und halten“ leitete am Donnerstagvormittag Rechtsanwältin Cornelia Süß. Dass es in Zukunft für die Anwaltschaft immer schwieriger wird, qualifiziertes Personal zu akquirieren, bescheinigen die Zahlen: Während im Jahr 2019 noch knapp 3.000 Verträge zur ReFa-Ausbildung abgeschlossen wurden, waren es 2020 nur knapp 2.700.
Das Problem bestehe nicht erst seit gestern. Das Berufsbild wurde lange nicht positiv beworben, sodass der Beruf vielen schlicht nicht bekannt sei – so die Erkenntnis von Rechtsanwältin Nicole Sturm, die dies bei Besuchen in Schulen und auf Messen erlebt habe. Auszubildende Gina Nowak empfahl, Rechtsanwaltsfachangestellte in der eigenen Kanzlei auszubilden. Erleben die Auszubildenden ein positives Arbeitsklima, spreche sich das auch schnell herum und führe dazu, dass neue potenzielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Kanzlei aufmerksam werden.
Rechtsanwalt Christian Solmecke berichtete, wie er mithilfe seiner Kanzleiwebsite, auf der man sich virtuell alle Büroräume anschauen kann, und Incentives mehr Bewerbungen und eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit erzielen konnte. Und auch, wenn Einzelanwältinnen und Einzelanwälte als Arbeitgeber aufgrund der niedrigeren Gehälter oft weniger attraktiv sind, können auch sie Incentives anbieten, die nicht die Welt kosten: Vermögenswirksame Leistungen, steuerfreie Gutscheine, Obst oder Weiterbildungsmaßnahmen.
Ausflug in die Psychologie: Resilienz – Schlüssel zum Erfolg?
Den Freitagnachmittag leitete Anwältin, Mediatorin und Coach Gesine Reisert mit einer aufrüttelnden Prognose ein: Laut der Studie „Future Worlds 2050“ der britischen Law Society werde es mit fortschreitender Entwicklung der Künstlichen Intelligenz zu einer Entqualifizierung (deskilling) des Anwaltsberufs kommen. Das bedeute gleichzeitig, dass das Erlernen bestimmter Qualitäten immer wichtiger werde – hier nannte Reisert die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und Strategien zu entwickeln. Im Erlernen von Resilienz – kurz: der Fähigkeit, auf Herausforderungen und Veränderungen mit Anpassung des eigenen Verhaltens zu reagieren – sieht sie einen wichtigen Schlüssel für kommende Herausforderungen.
Im interaktiven Online-Seminar erkundigte sich Reisert beim Publikum, ob die fünf wichtigsten Resilienzkomponenten bei Anwältinnen und Anwälten besonders ausgeprägt seien: Anpassungsfähigkeit, Selbstkontrolle, Durchhaltevermögen, Optimismus und Selbstwirksamkeit. Die ersten drei Komponenten, so waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer weitestgehend einig, könne man der Anwaltschaft durchaus zuschreiben – schließlich brauche man Durchhaltevermögen, um sich durch zwei Examina zu kämpfen. Bei den letzteren Komponenten gäbe es jedoch teilweise noch Optimierungsbedarf. Damit ist nicht nur die Resilienz von Individuen gemeint, sondern auch die organisationale Resilienz. Hier rät Reisert, sich mit Konzepten wie VUCA oder Präventionsmaßnahmen für digitalen Stress auseinanderzusetzen, um sich verändernden Anforderungen von Mandant:innen, aber auch sich selber gerecht zu werden.
Der nächste Deutsche Anwaltstag findet vom 22. bis 24. Juni 2022 im CCH Congress Center Hamburg statt.