Die häufigste Frage, die ich gestellt bekomme, wenn ich mich als Strafverteidiger zu erkennen gebe, ist diese: „Wie kannst du jemanden verteidigen, von dem du genau weißt, dass er schuldig ist?“
Verbunden mit dieser Frage ist oft ein moralischer Vorhalt irgendwo zwischen den Vorwürfen „Für Geld machst du doch alles!“ und „So viel besser als deine Mandanten bist du doch auch nicht!“.
Dem liegt ein Bild von Strafverteidigung zugrunde, das ungefähr so aussieht: Der Mandant erscheint bei seinem Rechtsanwalt, erzählt ihm, „wie es wirklich war“, und der Rechtsanwalt versucht anschließend, mit „irgendwelchen Verfahrensfehlern“ und einem „zumindest kreativen Umgang mit der Wahrheit“ einen Freispruch vor Gericht zu erwirken.
Dieses Bild hat aber nichts mit der Realität zu tun.
Genaue Kenntnis von einem strafrechtlichen Geschehen hat der Verteidiger nicht, denn er war bei dem Geschehen nicht dabei. Es ist auch nur äußerst selten, dass ein Mandant vor seinem Verteidiger ein Geständnis ablegt. Und selbst in diesen wenigen Fällen weiß der Verteidiger immer noch nicht, ob das stimmt, was ihm erzählt wird, denn Geständnisse besitzen nicht den Stellenwert, der ihnen allgemein zugestanden wird. Vor ein paar Jahren ging der Fall „Bauer Rupp“ durch die Presse: Vier „absolut glaubhafte“ Geständnisse einer brutalen Tötung und einer spektakulären Beseitigung der Leiche lagen vor, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte meinten. Später stellte sich heraus, dass das angebliche Opfer in der Donau ertrunken war und eben nicht – wie in den Geständnissen behauptet – die Familie den Vater mit dem Hammer erschlagen und anschließend an Hunde oder Schweine verfüttert hatte. Erst Jahre später – die zu Unrecht Verurteilten saßen schon lange in Haft – erfolgte ein Freispruch. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg entschied im Übrigen auch noch, dass die Angehörigen zwar zu Unrecht in Haft gesessen hätten, aber dass es in Ordnung sei, sie wegen der falschen Geständnisse dafür nicht zu entschädigen (EGMR v. 17.11.2015 – 60879/12).
In den Fällen, in denen die Schuld des Mandanten offensichtlich ist, geht es darum, eine möglichst milde Strafe für ihn zu erreichen. Strafmaßverteidigung nennen Verteidiger das und hier es geht darum, Verständnis bei der Staatsanwaltschaft und dem Gericht für das Verhalten des Mandanten zu wecken und auf der anderen Seite dafür zu sorgen, dass der Mandant nicht rechthaberisch, unbelehrbar und unverbesserlich auftritt.
Der Verteidiger sieht vor allem das Einzelschicksal seines Mandanten – das Gericht und die Staatsanwaltschaft die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege. Der Verteidiger ist selbstständiger Berater und Beistand des Beschuldigten, er ist nicht Gehilfe des Gerichts. Wie wichtig unsere Rechtsordnung die Aufgabe des Verteidigers nimmt, sieht man auch an den Privilegien, die Strafverteidiger – auch vor anderen Organen der Rechtspflege – haben: Der Strafverteidiger hat eigene, von seinem Mandanten unabhängige Erklärungsrechte im Prozess, nur er kann mit dem inhaftierten Mandanten über die „Verteidigerpost“ kommunizieren, er darf nach § 297 StPO in eigenem Namen Rechtsmittel einlegen und noch einiges mehr; sitzungspolizeiliche Ordnungsmittel muss er (eigentlich) nicht befürchten.
Max Alsberg, einer der bekanntesten Strafverteidiger der Weimarer Republik und Autor zweier Theaterstücke, lässt seinen Dr. Bohlen in „Konflikt“ sagen: „Glauben Sie, ein Anwalt könnte das alles aushalten, wenn er nicht eine höhere Aufgabe in sich spürte? Die vom Gesetz selbst geheiligte Aufgabe, an der Seite des Bedrohten zu kämpfen, ihn zu verteidigen. Mein Beruf hat mich auf die eine Schale von Justitiens Waage gestellt. (…) Zu wägen hat der Richter.“ An anderer Stelle schreibt Alsberg: „Den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit hemmen will der Kritizismus des Verteidigers!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.