Vincent Max Döbrich

Am 1. November 2018 tritt das Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage in Kraft – Zeit für einen ersten Über- und Ausblick:

1. Hintergrund

Anders als in den USA ist dem deutschen Prozessrecht das Instrument der Sammelklage grundsätzlich fremd. Verbraucher sind darauf angewiesen, Ansprüche eigenständig geltend zu machen, sei der Streitwert auch noch so gering und der Anspruchsgegner als Großkonzern mit noch so unendlichen Mitteln zur effektiven Prozessführung ausgestattet. Dass sich Verbraucher in vielen Fällen schon aus wirtschaftlichen Überlegungen scheuen, eigene Ansprüche gerichtlich durchzusetzen, ist wenig erstaunlich und wird vom Gesetzgeber als „rationales Desinteresse“ an der Verfolgung eigener Ansprüche bezeichnet.

Um Verbrauchern demgegenüber die Rechtsdurchsetzung zu erleichtern (und einer Empfehlung der EU-Kommission nachzukommen), hat der Gesetzgeber am 12. Juli 2018 beschlossen, die ZPO um ein sechstes Buch zu erweitern und in den §§ 606 bis 614 ZPO-neu ein Musterfeststellungsverfahren zu regeln.

Was kann dieses Verfahren leisten und was gerade nicht?

2. Grundsätze und Grenzen des Musterfeststellungsverfahrens

Kern der Regelungen zum Musterfeststellungsverfahren ist § 606 Abs. 1 S. 1 ZPO-neu:

Mit der Musterfeststellungsklage können qualifizierte Einrichtungen die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer begehren.

Ganz wesentlich ist hierbei, dass ausschließlich sogenannte qualifizierte Einrichtungen (legal definiert in § 606 Abs. 1 Satz 2 ZPO-neu) klagebefugt sind, in der Praxis vor allem Verbraucherschutzverbände. Der Gesetzgeber hat hiermit auf die unternehmensseitig bestehende Sorge reagiert, das Musterfeststellungsverfahren könnte eine ganze Klageindustrie hervorbringen. Zugleich bezweckt diese Regelung aber auch, dass Verbrauchern der Weg verwehrt bleibt, eigene Musterfeststellungsklagen zu erheben.

Verbraucher müssen dennoch Folgeprozess führen

Statthaft ist eine Musterfeststellungsklage dann, wenn mit dieser die Feststellung von Rechtsverhältnissen oder Anspruchsvoraussetzungen (Feststellungsziele) für eine Vielzahl von Verbrauchern gegenüber Unternehmern begehrt wird. Nicht vorgesehen ist hingegen eine Leistungsklage, mit der Folge, dass es qualifizierten Einrichtungen nicht möglich sein wird, für Verbraucher vollstreckbare Titel zu erstreiten. Verbraucher sind hierzu unverändert gehalten, einen eigenen Individualprozess gegen das Unternehmen auf Anspruchsgegnerseite zu führen.

Verbraucher können sich auf getroffene Feststellungen berufen

Dies mag zur Frage führen, welchen Vorteil das Musterfeststellungsverfahren für Verbraucher überhaupt bereithält? Der eigentliche Vorteil liegt darin, dass sich Verbraucher in ihren Individualverfahren grundsätzlich auf die vorab im Musterfeststellungsverfahren getroffenen Feststellungen berufen können (§ 613 Abs. 1 ZPO-neu). Diese Bindungswirkung – deren Reichweite durchaus zum Streitpunkt werden kann – gilt allerdings nur für Individualverfahren von Verbrauchern, die sich bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des Termins des Musterfeststellungsverfahrens in einem hierfür vom Bundesamt für Justiz eingerichteten Klageregister angemeldet haben (sog. Opt-in-Verfahren). Die Anmeldung entfaltet über den ebenfalls am 1. November 2018 in Kraft tretenden § 204 Abs. 1a BGB-neu verjährungshemmende Wirkung und bezweckt mit Ausnahme der Anmeldegebühr in Höhe von EUR 10,00 keine Kosten oder Prozessrisiken für den Verbraucher.

3. Fazit: Ende des „rationalen Desinteresses“?

Dieser bislang weitreichendste Versuch des deutschen Gesetzgebers, kollektiven Rechtsschutz zu stärken, weckt sowohl Erwartungen als auch Bedenken und verdient jedenfalls große Neugierde. Ob es dem Gesetzgeber gelingen wird, das Phänomen des „rationalen Desinteresses“ zurückzudrängen, ist dabei die zentrale Frage. Daran, dass Verbraucher auch nach Durchführung eines Musterfeststellungsverfahrens einen eigenen Prozess anstreben müssen, hat sich schließlich nichts geändert. Die mit einem solchen Prozess verbundenen Nachteile und Kostenrisiken müssten aus Sicht der Verbraucher demnach durch die infolge der Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils potentiell verbesserte prozessuale Ausgangslage aufgewogen werden.

Für die Beratungspraxis empfiehlt es sich, die Entwicklung dieser neuen Verfahrensart aufmerksam zu verfolgen, vor allem die zusätzliche (kostengünstige) Möglichkeit, die Verjährung zu hemmen, sollte bekannt sein.

Weitere Eckpunkte zur Musterfeststellungsklage

  • Sachliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte/allgemeiner Gerichtsstand des Unternehmens gilt ausschließlich
  • Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen: Glaubhaftmachung, dass von den Feststellungszielen Ansprüche/Rechtsverhältnisse von mind. zehn Verbrauchern abhängen, Anmeldung von mind. 50 Verbrauchern im Klageregister
  • Musterfeststellungsklagen und -urteile werden ebenfalls im Klageregister eingetragen (unentgeltliches Einsichtsrecht für jedermann)
  • Sperrwirkung: Keine parallele Musterfeststellungsklage zu demselben Streitgegenstand
  • Vergleich ist möglich, bedarf aber der gerichtlichen Genehmigung, Verbraucher können Austritt aus dem Vergleich erklären
  • Rechtsmittel ist die Revision

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