Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung der Justiz deutlichen Vorschub geleistet. Hierzu gehören nicht nur der elektronische Rechtsverkehr und die eAkte, sondern auch die virtualisierte mündliche Verhandlung. Fast alle Gerichte in Deutschland verfügen im Jahr 2022 über die Möglichkeit einer Teilnahme an Gerichtsverhandlungen „im Wege der Bild- und Tonübertragung“, also mittels Videokonferenz. Ein Quantensprung, denn 2020 war diese Technik noch kaum verfügbar. Entsprechend unsicher sind Gerichte und Beteiligte noch bei der praktischen Umsetzung. Hier hilft der folgende Beitrag.
Der Antrag – wann gestattet das Gericht die Videoverhandlung?
Einige Gerichte gestatten eine Videoverhandlung von Amts wegen oder jedenfalls auf Antrag großzügig. Nicht selten betonen Richterinnen und Richter aber, dass – auch zu Pandemiezeiten – die Präsenzverhandlung den gesetzlichen Regelfall darstellt. Um auch bei solchen Spruchkörpern die Gestattung einer Videoverhandlung zu erlangen, sollte der Antrag begründet werden. Je plausibler, evtl. zwingender, insoweit die Gründe sind, desto wahrscheinlicher ist die Gestattung der Videoverhandlung. Sicher wiegen hier vor allem gesundheitliche Gründe besonders schwer. Auch besonders lange Anreisen können aber ebenfalls ein guter Grund sein. Besonders überzeugend sind Gründe, die bei Nicht-Gestattung eine Vertagung erforderlich machen würden, oder anders nicht erreichbare Zeugen. Dies gilt insbesondere in Verfahrenskonstellationen, in denen besondere Emotionalität oder Empathie keine Rolle spielen. Dennoch sind einzelne Gerichte überraschend streng bei der Gestattung, weshalb jedenfalls nicht vollständig auf eine Begründung verzichtet werden sollte (jüngst bspw. LSG München, Beschluss v. 25.4.2022 – L 2 AL 62/22).
Der „andere Ort“ – welches Setting außerhalb des Gerichtssaals kommt in Betracht?
Verfahrensbeteiligte, ihre Bevollmächtigten, Sachverständige sowie Zeugen und Zeuginnen nehmen an der Verhandlung im Wege der Videokonferenz von „einem anderen Ort“ aus Teil. Auch wenn das Gesetz den „anderen Ort“ nicht näher beschreibt, liegt auf der Hand, dass es sich letztlich um einen beliebigen Ort außerhalb des Sitzungssaals handelt. Auf Tatbestandsebene unterliegt der Begriff also keiner weiteren Begrenzung. In Betracht kommen also bspw. die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten, die Büro- oder Praxisräume des Sachverständigen oder die privaten Wohnräume des Klägers oder einer Zeugin.
Die Eignung des „anderen Ortes“ in technischer Hinsicht spielt daher auf Tatbestandsebene keine Rolle, kann aber in der Ermessensausübung des Gerichts bei der Gestattungsentscheidung berücksichtigt werden. Deshalb sollten eventuelle Nachfragen des Gerichts zum Ort entsprechend beantwortet werden. Gerade bei zeitlich knapper Antragstellung vor dem Termin empfiehlt es sich, den anderen Ort auch ungefragt zu bezeichnen („Ich beabsichtige, von meinen Kanzleiräumen aus teilzunehmen.“) und die technische Eignung zu versichern („Die dort vorhandene Technik ist für eine Videokonferenz geeignet“). Zwar kann „anderer Ort“ auch eine Stelle sein, an der technische Probleme nach allgemeiner Lebenserfahrung zu erwarten sind (bspw. im Abteil eines ICE). Dies sollte jedoch vorab gegenüber dem Gericht offengelegt und begründet werden.
Ebenfalls zumindest nicht auf Tatbestandsseite ausgeschlossen sind Räumlichkeiten, die nicht den Anforderungen des Gerichts an die Angemessenheit oder Würde eines Verhandlungstermins entsprechen. Greift der Videokonferenzteilnehmer bzw. die -teilnehmerin durch die Gestaltung des anderen Orts die Würde des Gerichts oder das Persönlichkeitsrecht eines Beteiligten an (bspw. durch beleidigende Texte auf einem T-Shirt oder einem Plakat im Hintergrund des Kamerabildes), so kann das Gericht mit sitzungspolizeilichen Maßnahmen reagieren, bspw. dem Abbruch der Verbindung. Dies sollte mit der Mandantschaft ggf. vor der Sitzung besprochen werden.
Auch wenn hierdurch in der Praxis gar nicht so selten ein Grund für Erheiterung besteht, ist klar, dass auch die Teilnahme im Wege der Bild- und Tonübertragung ein Auftreten „vor Gericht“ im Sinne des § 20 BORA ist. Die Robenpflicht wird zwar im Allgemeinen und ganz besonders bei einer Teilnahme im Wege der Bild- und Tonübertragung äußerst unterschiedlich gehandhabt. Praktisch sinnvoll und daher ratsam ist es aber, auch am „anderen Ort“ eine Robe griffbereit zu haben. Dieser Gedanke dürfte sich auch auf weitere Formalien übertragen lassen; bspw. das Aufstehen während der Urteilsverkündigung. Um insoweit Peinlichkeiten zu vermeiden, sollten Räumlichkeiten, Kleidung im Übrigen (d. h. auch unterhalb der Schreibtischkante) entsprechend gewählt werden. Soziale Medien sind mittlerweile gefüllt mit amüsanten Anekdoten eigener und fremder Fettnäpfchen einschließlich Katzenbilder (Stichwort: „I‘m not a cat!“), die durch etwas Vorplanung vermeidbar, im Übrigen aber auch mit ein wenig Humor und Nachsicht von allen Seiten hinzunehmen sein dürften.
Technische Anforderungen – was brauche ich für die Videoverhandlung?
Die zum Einsatz kommende Technik erfordert zunächst einen entsprechenden Videokonferenzdienst, der aus einer Videokonferenzsoftware (bzw. der Lizenz für eine solche Softwarelösung) und einer Server- und/oder Netzwerkinfrastruktur besteht. Hierfür sorgt das Gericht. Beteiligte nehmen stets an einer von dem Gericht eingerichteten Videokonferenz teil, nicht das Gericht an einer Videokonferenz eines Beteiligten. Im Sitzungssaal erschienene Beteiligte, Zeugen, Zeuginnen und Sachverständige werden ebenso wie Richterinnen und Richter mit gerichtlicher Technik eingeblendet. Auch die Öffentlichkeit muss in die Lage versetzt werden, der Verhandlung in gleicher Art und Weise zu folgen, wie dies bei physischer Präsenz sämtlicher Beteiligter im Sitzungssaal möglich wäre (Bildschirm, Lautsprecher); nicht hingegen ihrerseits als Videokonferenz (kein „Live-Stream“ der mündlichen Verhandlung).
Die am „anderen Ort“ befindlichen Teilnehmenden der Videoverhandlung haben dafür Sorge zu tragen, dass die eigene Hardware, einschließlich einer Kamera und eines Mikrofons, funktionsfähig ist. Hierzu genügt zumeist ein Smartphone, besser ein Tablet oder ein PC mit Kamera. Ferner müssen ggf. Browser-Add-Ins oder Apps installiert werden können. Hierfür müssen ausreichende Berechtigungen zur Installation der Software vorhanden sein und ein Zeitpuffer vor dem Verhandlungsbeginn eingeplant sein. Firewalls und Virenschutz müssen die Installation und Zugriffe auf Kamera und Mikrofon zulassen.
Sämtliche Beteiligte im Sitzungssaal und im Fall mehrerer Gestattungen gem. § 110a SGG an sämtlichen „anderen Orten“ müssen gleichzeitig zu sehen und zu hören sein. Eine bei sonstigen Besprechungen außerhalb des Justizumfelds beliebte bloße sog. Sprecheransicht, bei der nur das Bild der jeweils sprechenden Person oder eines Moderators zu sehen ist, genügt für die „Gleichzeitigkeit“ der Bild- und Tonübertragung nicht. Der berühmte „schlafende Richter“ muss von den Beteiligten ebenso entlarvt werden können. Mit Blick auf § 295 ZPO ist andernfalls eine Rüge noch im Termin erforderlich, wenn ein Teilnehmender seine prozessualen Rechte beeinträchtigt sieht.
Derzeit sind in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Produkte im Einsatz. Neben (alten) ISDN-Anlagen nach dem H.323-Standard werden mittlerweile vorwiegend webbasierte Produkte wie Microsoft Teams oder dessen Vorgänger Skype for Business, Cisco WebEx und Polycom genutzt. Eine Übersicht findet sich in dem privaten Blog von Rechtsanwalt Jannik Krone 128a.de. Eine bundesweite Lösung wird derzeit vom Bundesjustizministerium angestrebt, dürfte aber nicht kurzfristig bereitstehen.
Kostenfolgen
In gerichtskostenpflichtigen Verfahren wird im Rahmen der Gerichtskosten gem. Nr. 9019 der Anlage 1 zum GKG eine Pauschale für die Inanspruchnahme von Videokonferenzverbindungen je Verfahren in Höhe von 15 Euro für jede angefangene halbe Stunde fällig. Die Länge der Videokonferenznutzung sollte sich daher aus dem Protokoll ergeben.
Testtermin und redundante Erreichbarkeit
Bei Teilnehmenden, die mit der eingesetzten Videokonferenztechnik noch keine praktischen Erfahrungen sammeln konnten, ist die vorherige Vereinbarung eines technischen Tests dringend zu empfehlen. Das Gericht kann im Rahmen seiner Ermessensentscheidung die Gestattung auch von einem erfolgreichen Test abhängig machen. Dieser Test sollte sowohl im Gericht als auch am „anderen Ort“ unter möglichst den identischen Bedingungen durchgeführt werden wie der geplante Termin. Firewall-Einstellungen, Routerbeschränkungen oder mangelnde Netzwerkkapazitäten können ebenso Hindernisse darstellen wie (noch) nicht installierte Programme, Browser-Add-ons oder Smartphone-/Tablet-Apps. Es benötigt Zeit, diese Probleme im Vorfeld aus dem Weg zu räumen.
Eine wichtige Praxiserfahrung ist es, den Teilnehmenden neben dem Videokonferenzzugang noch einen weiteren informellen Kommunikationskanal in den Sitzungssaal zu eröffnen, um sich bei technischen Problemen mit der Bild- und Tonübertragung schnell beim Gericht melden zu können (Telefonnummer des Gerichtssaals oder jedenfalls der zuständigen Geschäftsstelle). Nicht nur kann so im Einzelfall schneller Support den Verhandlungstermin an sich „retten“. Gerade bei mehreren Beteiligten an unterschiedlichen „anderen Orten“ kann das Gericht ohne Rückmeldung des Beteiligten auch schlicht übersehen, dass dieser an der Bild- und Tonübertragung nicht mehr teilnimmt (bspw., weil dessen Bild „eingefroren“ ist – was nicht auf den ersten Blick auffällt – oder weil nur der Ton ausfällt, das Bild aber weiter zu sehen ist). Schließlich ist so manches Verhandlungsergebnis – notfalls unter Rückgriff auf § 295 ZPO – zu retten, wenn die Technik streikt. So ist sogar der völlige Ausfall der Bildübertragung ein „verzichtbarer Verfahrensfehler“ – es kann dann im Einverständnis aller Beteiligten als Telefonkonferenz weiterverhandelt werden.
Ablauf und Anforderungen für die Videoverhandlung im Überblick:
- Antragstellung bei Gericht
- Kurze Begründung des Antrags (terminliche Gründe, gesundheitliche Gründe …)
- Mitteilung des geplanten „anderen Orts“ und Versicherung der Eignung des Orts und der Technik
- Bitte um einen Testtermin
- Mitteilung einer (telefonischen) Erreichbarkeit am Sitzungstag
- Anforderungen an den „anderen Ort“
- Technik (ausreichende Bandbreite, Kamera Mikrofon)
- Firewall, Virenschutz und Zugriffsberechtigungen erlauben die Teilnahme
- Vom Gericht vorgesehene Software ist aufrufbar oder installiert (bspw. Browser-Add-ons, Apps)
- Robe griffbereit, Kleidung, Hintergrund angemessen (ggf. auch mit der Mandantschaft absprechen)
- Räumlichkeiten bieten ausreichend Ruhe, Datenschutz
- Hinweis an Mandanten und Mandantinnen, dass eine Aufzeichnung verboten ist
- Durchführung eines Testtermins
- Ist eine telefonische Erreichbarkeit des Gerichts im Sitzungssaal bekannt?
Prof. Dr. Henning Müller ist Direktor des Sozialgerichts Darmstadt, Lehrbeauftragter der Philipps-Universität Marburg und der Hochschule Ludwigshafen. Zudem ist er Mitherausgeber des „jurisPK-ERV“, des „beckOKG-SGG“ und der Zeitschrift „Recht Digital“ (RDi), sowie Herausgeber des Blogs ervjustiz.de zum elektronischen Rechtsverkehr und Autor des Fachbuchs „e-Justice-Praxishandbuch“.
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